Urbane Künste Ruhr haben mit ihrer Grand Snail Tour den ersten Winter überlebt. Bevor es weiter in den ersten Frühling geht, geht es ins Gespräch – Leiterin der Urbanen Künste Ruhr, Britta Peters, und Kurator Julian Rauter, gewähren einen Blick ins Schneckenhaus. STROBO-Autorin Anastasia erfährt, was die Schnecke auf ihre Strecke bringt. Fest steht: Der Weg ist das Ziel.
STROBO: Warum der Name, warum dieses Projekt?
Britta Peters: Das hat viel mit einem anderen Projekt zu tun, was wir von 2019 bis 2023 umgesetzt haben. Das Ruhr Ding als temporäres Format war der Versuch, innerhalb der dreiundfünfzig Ruhrgebietsstädte Verbindungen zu schaffen und jeweils in bis zu vier Städten ungefähr 20 neue künstlerische Projekte gleichzeitig an den Start zu bringen. Das war auch ganz toll, es hat richtig viel Spaß gemacht. Aber ich hatte irgendwie auch das Gefühl, alle Energie drängt auf diese zwei Monate Ausstellungszeit. Dann habe ich überlegt: Wie kann man das Ganze etwas dynamischer machen? Können wir auch in Städte hineinwirken, aus denen die Leute vielleicht bisher nicht zu unseren Projekten kommen? Mit der Grand Snail Tour haben wir die Bewegungsrichtung jetzt umgedreht: Wir laden nicht mehr nur an bestimmte Orte ein, sondern fahren in alle Städte rein. Es geht viel stärker um das lokale Publikum, die Anwohnerinnen und Anwohner. Die Grand Snail Tour ist ja auch als dreijähriges Projekt angelegt. Für mich ist das vor allem ein Projekt, für Julian sind es dreiundfünfzig verschiedene (lacht). Ich sehe es als ein Langzeitprojekt. Das ist der große Reiz. Wir machen ja eine Schneckenbewegung, deshalb auch Grand Snail Tour.
STROBO: Was ist Urbane Künste Ruhr?
Britta Peters: Urbane Künste Ruhr ist aus der Kulturhauptstadt Ruhr.2010 hervorgegangen. Seit 2018 bin ich die künstlerische Leitung, ich bin die Chefin sozusagen. Julian ist Kurator für Outreach und das Team selbst umfasst inklusive halber und projektbezogener Stellen teilweise bis zu 15 Leute.
STROBO: Wer bringt die Kunst?
Britta Peters: Wir sind mit einem mobilen Ausstellungs- und Veranstaltungsraum unterwegs, einem Aktionsraum. Es gibt von vornherein Künstler*innen, deren Arbeiten Teil von diesem Trailer sind. Sie haben für unsere Tour bestimmte Objekte entworfen, die einerseits künstlerisch interessant sind, aber gleichzeitig auch von uns genutzt werden. Der ganze Wagen ist also aus der Kunst gedacht und mausert sich mit künstlerischen Objekten, die zu dem Trailer gehören. Der Trailer bringt viel mit, worüber man ins Gespräch kommen kann. Wir haben auch intern diese Idee, den Aufbau quasi performativ in die Länge zu ziehen, einfach für das Publikum, für zufällige Passanten.


STROBO: Also der Aufbau als Performance?
Britta Peters: (lacht) Genau, dass man den Aufbau quasi wie eine Baustelle beobachtet: „Was machen die denn da?“. Das sind eigentlich alles kleine Tricks, um ins Gespräch zu kommen oder um erst mal anzukommen.
Ein Plan vom Zufall
STROBO: Ihr macht euch Gedanken über das Publikum – wie viel Zufall spielt da rein?
Julian Rauter: Also Publikum im Sinne von welche Initiativen, welche Vereinen, welche Community gibt es, mit denen wir zusammenarbeiten können. Wir haben schon noch diesen Überraschungsmoment und dieses Neugier-Wecken, indem wir auf einmal irgendwo da sind, wo wir vorher nicht da waren. Zeitgleich sind wir auch schon versucht, nicht wie ein UFO irgendwo zu landen, sondern sich einzubetten und zu gucken, was und mit wem kann es sinnvoll sein zusammenzuarbeiten. Da fließt natürlich auch Recherche-Zeit rein. Allein dadurch findet Austausch und Kommunikation statt, einfach indem man sich mit Leuten trifft und denen das Projekt vorstellt.
Britta Peters: Wir machen natürlich auch viel Werbung, mit kleinen Plakaten und Flyern und auch in den sozialen Medien. Wir setzen auf ein Laufpublikum, aber versuchen auch so zu kommunizieren, dass Leute gezielt kommen.
STROBO: Ein bestimmtes Publikum?
Britta Peters: Ne, ne. Ein sehr breites Publikum. Wir haben eigentlich keine spezielle Zielgruppe. Gerade wenn wir auf einem Marktplatz stehen, richten wir uns an das Publikum, das sowieso vorbeikommt, plus das Publikum, das kommt, weil sie wissen, dass wir da sind. Und das ist auch wichtig, weil ich mir die Tour so vorstelle, dass sie Schneeballeffekt-mäßig immer mehr Leute versammelt.

STROBO: In den drei Jahren kann sehr viel passieren. Ist schon mal etwas nicht so gelaufen, wie ihr euch das vorgestellt habt?
Julian Rauter: Off the record? (lacht) Ne, also… Ich würde sagen, es gibt auf jeden Fall Dinge, die anders laufen als gedacht, aber es ist halt auch ein Prozess und manches muss sich auch erst mal setzen.
Britta Peters: Unter den Künstler*innen, die die Tour begleiten, ist auch Lütfiye Güzel, eine Poetin aus Duisburg. Sie hat das mal ganz schön gesagt: „53 Städte, 53 Chancen“. Und das trifft es eigentlich voll. Immer, wenn wir im Nachhinein merken, das war jetzt ein bisschen schwierig, können wir es in der nächsten Stadt anders machen. Extrem positiv war zum Beispiel die Lesung in der Weseler Fußgängerzone im Winter. Da sind dann doch eine Menge Leute stehen geblieben und haben gesagt: „Ich mach mal ganz kurz Zuhause noch den Ofen aus und komm dann hierher“. Andere Leute haben aus den Fenstern gelehnt und zugehört, damit hatte ich nicht gerechnet.
Die Situationship mit dem Ruhrgebiet
STROBO: Ist der öffentliche Raum eine Bühne?
Britta Peters: Er ist eigentlich keine Bühne, das ist ganz wichtig, finde ich. Wenn er eine Bühne wäre, dann würden wir da unser Stück inszenieren. Stattdessen ist er unser Aktionsraum, unser Ort, an dem wir versuchen, mit anderen gemeinsam Dinge zu erleben. Anfangs haben wir viel darüber diskutiert: „Wie nachhaltig ist das Ganze, wenn wir für einen Tag kommen?“. Aber wir kommen ja gar nicht nur für einen Tag, es beginnt viel früher. Alle arbeiten auf das Ereignis hin, mit Gedankenaustausch, Diskussion und Vorbereitung. Dann kommt der Tag, an dem alles stattfindet. Und der wirkt ja auch nach als Erfahrung. Weil da plötzlich mal etwas ganz anders war als sonst im Alltag. Sowohl für einige der beteiligten Gruppen als auch für Passanten, die plötzlich aufmerksam werden und sich fragen: „Hä, was war das denn?“. Interessant. Wir sind ja keine Politiker*innen im Wahlkampf, die würde man ja sofort erkennen. Wir wollen auch keine Blutspenden sammeln. Wir sind kein richtiger Zirkus, sondern irgendetwas dazwischen. Ich glaube, solche Erfahrungen sind sehr einprägsam. Man merkt einfach, auch der Alltag in der Stadt kann ganz anders aussehen. Es kann ganz andere Logiken geben.
Julian Rauter: Wo eben auch der Zufall eine Rolle spielt, und das meintest du ja auch gerade. Wir verabreden uns mit irgendjemanden, mit einem Ort im Grunde. Man kann gar nicht alles fest planen, das heißt, es hat irgendwie fast schon Form von einem Date. Man hat nicht alles in der Hand. Dadurch, dass man nicht alles geplant hat, können auch nachhaltige Erfahrungen gemacht werden, die auch dann noch bleiben, wenn wir mit der Tour schon ganz woanders sind.

STROBO: Gibt es Grand Snail Tour Groupies?
Britta Peters: Wir sind ja immer im Nachbarort, da kann man uns gut folgen. In Herne findet dann im Oktober 2027 der große Abschluss statt – das ist ja der selbsterklärte Mittelpunkt der Region. Es ist ein bisschen wie bei diesem Märchen „Der Rattenfänger von Hameln“ (lacht). Wir sammeln natürlich auch unsere Leute. Ich verspreche mir viel vom Sommer. Anders als im Winter, wo wir alle stehen und frieren. Manchmal habe ich das Gefühl, uns umgibt diese unausgesprochene Frage: „Warum? „Warum frieren wir hier jetzt alle?“ Die Antwort geht in zwei Richtungen. Die eine ist konzeptionell, dass es uns wichtig war, für die Tour einen Rahmen zu schaffen, der immer gleich bleibt, abgesehen von Ausnahmen, die auch stattfinden. Damit wir eben nicht immer wieder aufs Neue anfangen zu diskutieren: „Wann wollen wir losfahren? Wo wollen wir hingehen? Wie lange wollen wir da bleiben?“. Deswegen gibt es die Regel: immer donnerstags, alle zwei Wochen, alle drei Wochen. Donnerstag stehen wir auch manchmal morgens schon auf dem Wochenmarkt, wenn es da einen Wochenmarkt gibt. Das ist der Standard. Bisschen so, wie die große Schule der Konzeptkunst, aus den 60er, 70er Jahren. Zum Beispiel On Kawaras Projekt „I went…“, für das er tagtäglich akribisch seine Wege aufgeschrieben hat, stoisch. An einem anderen Tag konnte er es vielleicht aus irgendwelchen Gründen nicht aufschreiben und dann hat er es halt auch gelassen. Das finde ich gut: Sehr strikt in den Versuchsanordnungen, aber es kann auch Ausnahmen geben. Wir sind auch strikt mit unserer Versuchsanordnung, aber haben zum Beispiel dieses Jahr in Dortmund auch die erste Ausnahme, wo wir einen längeren Stopp machen. Da veranstalten wir auf dem Nordmarkt ein größeres Fest. Es ist wichtig, dass es diese Ausnahmen gibt, aber genauso wichtig ist auch die selbstauferlegte Regel. Dazu gehört auch, dass der Winter Teil von den Wochen und Monaten ist, in die wir uns aufteilen. Sonst würden wir es in drei Jahren schlicht auch gar nicht schaffen, das Ruhrgebiet komplett zu bereisen. Sonst wären wir in fünf Jahren noch unterwegs. Das ist die konzeptuelle Schiene. Die andere Überlegung ist, dass es natürlich auch in skandinavischen Ländern öffentliche Räume gibt. Das öffentliche Leben stirbt ja nicht, nur weil es kalt ist. Viele ziehen sich natürlich zurück, aber das ist vielleicht ein Grund mehr zu sagen: „Lass uns trotzdem mal zwei, drei Stunden auf dem Platz zusammenkommen.“
Zwischen den Sternen und Zeilen
STROBO: Letztes Mal sahen wir uns in Xanten bei der Eröffnung. Mona Schulzek stand mit einer großen Satellitenschüssel auf dem Marktplatz – ihr Outer Space Transmitter – und hat Nachrichten aus Xanten ins All geschickt. Gab es schon eine Antwort aus dem Universum?
Britta Peters: Also eine Antwort leider noch nicht, aber es gibt eine wirklich interessante und auch sehr berührende Sammlung von Texten, die da hochgeschickt wurden.
STROBO: Ihr habt die Texte behalten und gelesen?
Britta Peters: Wir haben die Texte behalten und gelesen.

STROBO: Was steht als Nächstes an?
Julian Rauter: Als Nächstes, in Haltern, haben wir Caren Jeß und Tim Holland. Tim Holland war schon als Chronist in Hünxe am Start und ist jetzt als Autor mit am Start, Caren wiederum wird 2026 als Chronistin tätig sein. Die beiden machen ein Büro für außerordentliche Schreibangelegenheiten, schreiben also für Bürger*innen Texte. Da stehen wir auch wieder im Stadtzentrum am Markt und dann kann man Liebesbriefe, Beschwerden, Anträge… alle möglichen Texte in Auftrag geben.
Britta Peters: Du könntest dich anmelden, dass du eine Rezension machst von dem Stopp und dir den Text schreiben lassen (lacht).
STROBO: Alle Texte werden vor Ort geschrieben und anschließend vorgelesen?
Julian Rauter: Wir hoffen jetzt nicht, dass jemand einen ganzen Roman in Auftrag gibt (lacht). Vielleicht ist es für irgendjemanden ein Impuls, Briefe an jemanden zu schreiben. An die Oma oder sowas. Wo man bisher noch keine Idee hatte, oder fehlende Vokabeln, fehlende Zeit. Dadurch wird eine neue Möglichkeit geboten, vielleicht auch aus einem spielerischen Geist heraus.
STROBO: Vielleicht auch ein Gegenwirken zu ChatGPT, wo man auch diese Prompts setzt. Hier habt ihr noch die analoge Version: Menschen, die man nicht kennt.
Julian Rauter: Ja, stimmt (lacht).
Woher die Schnecke kommt und wohin sie gehen wird
STROBO: Ihr macht aus dem Ruhrgebiet einen Organismus, auch durch den Namen Grand Snail Tour. Hätte es auch ein anderes Tier sein können, außer der Schnecke?
Britta Peters: Nein, aber es gab eine lange Diskussion um den Namen. Am Ende habe ich mich durchgesetzt mit der Grand Snail Tour, weil es so viel Sinn ergibt. Einmal ist es die Schneckenbewegung durch die Region, gedreht wie eine Zimtschnecke. Dann hat eine Schnecke ihr Haus auf dem Rücken, die haben ja gar keinen Raum.
STROBO: Ahh… Backpack.
Britta Peters: Backpack! Das entspricht unserem Trailer, wir haben ja ansonsten auch kein festes Haus. Zudem ist die Schnecke ein Zwitter, also ein queeres Wesen. Es gibt Assoziationen zu der Schleimspur, das klingt vielleicht eklig, aber glitzert auch schön. Langsamkeit ist auch interessant. Es gibt einfach ganz viel, was gepasst hat bei Grand Snail Tour. Am Anfang war der Arbeitstitel Grand Tour. Die Grand Tour war für Söhne aus gutem Haus, die nach Mitteleuropa geschickt wurden, damit sie zum Beispiel auf Italien-Reise gehen und die europäische Kultur kennenlernen Die Touren wurden aber auch Kavalierstouren genannt, das Ganze hat so einen kolonial und sexistischen Touch, deshalb haben wir uns dagegen entschieden. Gleichzeitig fand ich die Behauptung einer großen Tour gut. Als Grand Snail Tour ist der Titel jetzt interessanter geworden: Es gibt das Größenwahnsinnige von der Grand Tour, aber auch die Schnecke.
STROBO: Worauf freut ihr euch?
Julian Rauter: Ich freue mich einfach auf die nächsten Tourstopps!
Britta Peters: Ja, ich freue mich auch! Ich bin auch echt gerne dabei. Ich habe immer das Gefühl, ich verpasse etwas, wenn ich aus irgendeinem Grund mal nicht dabei sein kann, weil eben nie ganz klar ist, wie sich ein Stopp entwickelt. Ich freue mich natürlich auch, das Ruhrgebiet auf diese Art und Weise kennenzulernen. Aber ich freue mich auch, wenn es irgendwann Frühjahr wird: Es wird wärmer, es kommen noch mal mehr Leute, darauf freue ich mich.
Bock auf mehr Strobo? Lest hier: Podcast „Zwischen Gellek & Duisi“- Folge 1: „Hi, na! Wir sind’s.“.