Bei den Internationalen Kurzfilmtagen feierte Stella Neuner ihr Debüt als Musikvideoregisseurin – mit einem Clip zum Song „WOW“ von fastmusic. Die extravagante Choreographie trifft auf kühle Industriehallen-Ästhetik. STROBO-Autor Vincent Klapfenberger hat mit ihr über Tanz, Stil und kreative Freiheit gesprochen.
Extravagante Bewegungen treffen auf einen atmosphärischen Sound, extravagante Mode trifft auf eine farblose Halle – Stella Neuner präsentiert bei den diesjährigen Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen ihr erstes Musikvideo. Stella wurde in Sydney geboren und war schon immer künstlerisch interessiert. Ihre Liebe zum Tanz entdeckte sie früh und begann an der „Danse Académie Vevey“ mit Ballett und Contemporary Dance: „Mein künstlerischer Automatismus ist es zu tanzen. Das ist es, was sich für mich am natürlichsten anfühlt. Immer wenn ich mir künstlerische Konzepte überlege, ist mein erster Anhaltspunkt Tanz.“ In die Filmbranche ist sie hineingerutscht, denn eigentlich arbeitet sie am Theater. Dort bahnte sie sich ihren Weg über eine Hospitanz am Nürnberger Staatstheater hinzu einer Festanstellung als Regieassistentin am Residenztheater in München. Parallel engagiert sie sich in der freien Szene. Die bietet ihr die Möglichkeit, sich frei zu entfalten und eigene Projekte zu realisieren. Sie ist Teil des Theaterkollektivs „Open House“ am Pathos Theater und gleichzeitig Teil des Musikkollektivs „HIDALGO“ für urbane und interdisziplinäre klassische Musik. Mit einem jährlichen Festival will das Kollektiv klassische Musik neu erfahrbar machen – durch eine Mischung aus Hochkultur, Mainstream und alternativen Formaten.

Das Musikvideo zu “WOW”: Wie Bewegung eine neue Sprache formt
„Ich mache meine Kunst sehr stark aus der Intuition heraus und gestalte sie sehr bildlich“, verdeutlicht Stella und genau das spiegelt sich auch in ihrem Musikvideo wider. Das Video startet mit einem pulsierenden Beat. Stella und die anderen beiden Tanzenden Joe Bogner Carbó und Kristina Isabella Trněný betreten nacheinander die Bühne. Ihre Bewegungen sind auf den Puls des Liedes abgestimmt. Die Choreo hat sich Stella Neuner selbst ausgedacht und in dieser fließen verschiedene Tanzstile zusammen und bilden eine einzigartige Sprache. In dem Video finden sich Elemente des Ballroom-Style, der sich durch seine aufrechte Körperhaltung und fließenden Bewegungen kennzeichnet. Genauso finden sich Jazz-, Waacking- und Voguing-Elemente in ihrer Inszenierung wieder. Waacking stammt aus der Disco-Ära der 1970er in Los Angeles und charakterisiert sich durch schnelle, expressive Armbewegungen. Voguing entstand in der 1980er Ballroom-Szene New Yorks und kombiniert Modelposen mit einer oft theatralischen Attitüde. Beide Stile stehen für Selbstbewusstsein, queere Identität und künstlerische Freiheit.
Es ist Stellas erstes Musikvideo-Projekt, das sie begleitet: „Es ist aus dem Impuls heraus entstanden, einfach mal etwas zu machen.“ Stella stellt sich konkrete Szenen gedanklich vor und macht aus ihren Visionen Realität, die Musik spielt dabei zunächst keine große Rolle: „Normalerweise kreiert man ein Musikvideo zu einem bestimmten Song, bei mir ist das aber ein bisschen anders. Ich glaube, weil ich super bildlich und nach einem Ästhetik-Gefühl arbeite, steht sie bei mir nicht an erster Stelle. Die passende Musik ist dann aber das Schwierigste zu finden.“ Letztlich hat sich Stella für den Song „WOW“ von fastmusic entschieden. Gedreht wurde das Musikvideo in der Probebühne des Residenztheaters, in dem Stella als Regieassistentin arbeitet. Sie betont, dass es zwischen Theater-Inszenierungen und Filmdrehs eindeutige Unterschiede gibt: „Kunst lebt von der Zusammenarbeit unterschiedlicher Menschen, die verschiedene Perspektiven einbringen. Ich glaube, darin bin ich halt sehr theatergeprägt.“ Die kreativen Arbeitsprozesse des Musikvideos fanden hingegen in kleinen Arbeitsgruppen statt. Während im Theater Tanznummern von der Storyline oftmals getrennt werden, versucht Stella all diese künstlerischen Sprachen zu vereinen. Das Musikvideo selbst ist zweiteilig aufgebaut: Im ersten Teil liegt der Fokus auf der choreographierten Tanzperformance, gefilmt mit variierenden Einstellungsgrößen. Der zweite Teil spielt in einem anderen Raum mit freieren Bewegungen. Für Stella bedeutet das: Genau hinsehen und klare Regieanweisungen geben.
Bildunterschrift: Behind the Scenes des Musikvideodrehs. Links steht Joe Bogner Carbó, in der Mitte Kristina Isabella Trněný, rechts ist Stella Neuner. Foto: Natascha Dick.
Der Apfelbiss als Stilbruch – und was er im Video auslöst
In dem Musikvideo treffen Gegensätze aufeinander: Grotesk trifft auf Ästhetik, farbenfrohe Kleidung trifft auf einen kargen Raum. Auf die Frage, welche Geschichte Stella mit ihrem Musikvideo erzählen möchte, antwortet die 22-Jährige: „Ich habe ein wenig Angst vor dieser Frage, weil ich mir ehrlicherweise nicht so viel dabei gedacht habe.“ Ein zentrales Bild zieht sich dennoch durch das gesamte Musikvideo: Der Apfel. Dieser dient als roter Faden, indem er uns durch den gesamten Clip begleitet. „Ich habe Joe gebeten, in den Apfel zu beißen, weil dieses groteske Bild total interessant war. Es steht im Kontrast zu der restlichen Performance, die eher ästhetisch und clean wirkt. Gerade in diesem Moment war es super spannend, diese Ästhetik zu brechen und so hat sich das mit dem Apfel weitergezogen.“ In der Schlussszene des Musikvideos steht die Schlüsselfigur Kristina Isabella Trněný vor drei Äpfeln und entscheidet sich, einen davon mit ihrem Fuß weg zu kicken. Ein weiterer Kontrast zeigt sich im Zusammenspiel der bunten, extravaganten Kostüme und der farblosen Halle, in der das Video gedreht wurde. Natascha Dick war für die Kostüme verantwortlich und erklärt, dass diese inspiriert von der Drag-Community, die Voguing-Elemente in dem Musikvideo unterstreichen sollen.

„Manchmal muss man einfach anfangen“
Von Beginn an betrachtet Stella das Projekt als ein Experiment und die Möglichkeit, ihre eigenen Gedanken zu visualisieren. „In den letzten vier Jahren wurde ich immer als Assistentin gesehen, meine Kunst fand dabei keinen Raum. Jetzt schaffe ich diesen selbst, gerade durch meine Arbeit in der freien Szene und durch diese Projekte“, erklärt sie. Ihr nächstes Musikvideo ist bereits in Planung, dieses Mal mit sechs Tänzer*innen. Ihren persönlichen Stil möchte Stella durch weitere praktische Erfahrungen immer mehr finden. Eins ist sicher, es wird nicht langweilig: „Ich finde campige Kunst total spannend, im Gegensatz zu diesem minimalistischen und ernsten. Man kann Farben nutzen, ein einzigartiges Make-up, extravagant und bold sein. Wieso nicht?“ Camp-Kunst nimmt sich oft nicht zu ernst, spielt mit Identitäten, Geschlechterrollen und gesellschaftlichen Normen. Sie feiert den Hang zur Übertreibung, feiert das Künstliche und wendet sich oft von natürlichen Elementen ab. Sie stellt das in den Mittelpunkt, was für viele geschmacklos oder zu kitschig ist und schafft damit eine neue spannende Perspektive auf Kunst und Ästhetik.
Bock auf mehr STROBO? Lest hier: „Ich will versuchen in meinen Songs laut zu sein“ – Sängerin Emma Rose im Portrait.