Dieser Beitrag entstand im Rahmen einer Medienpartnerschaft mit: RuhrBühnen. Die RuhrBühnen haben keinen redaktionellen Einfluss auf die Rezension.
Carmina Burana von Carl Orff, ein Sehnsuchtsstück für Orchester, Chöre, Dirigent*innen. Ein Dauerbrenner. Und sei es nur wegen des überwältigendem „Oh Fortuna“ am Anfang und am Ende. Kein Programmpunkt, der von sich aus nach Frische und Innovation duftet. Das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR) will mit seiner Neuinszenierung das leicht abgestandene Aroma des Klassikers verbessern. Der Duft der Wahl: Die MiR Dance Company, die hauseigene Tanzabteilung.
Intimität in Orange
Bevor das Zusammenspiel aus Klassik und modernem Tanz beginnt, liegt der Fokus auf zwei runden, orangen Teppichen im Foyer. Umgeben vom Publikum (Durchschnittsalter Rente) und den Klängen eines Konzertflügels startet zuerst die Performance „Somos“. Je zwei in den teppichfarben gekleidete Männer- und Frauenpaare performen eng umschlungen, nie den Kontakt zur Partner*in verlierend. „Wir sind“, könnte man den Titel grob übersetzen. Intim, durch die orangenen Ganzkörperkostüme aber trotzdem distanziert. So, als seien das keine Menschen, die mit akrobatischer Bodentanzperfektion ihre Gliedmaßen ineinander verschränken, sondern einfach Körper. Scheint aber nicht allen so zu gehen, manche Blicke richten sich eher beschämt aufs eigene Sektglas. Irgendwie verständlich. Dieses Jahr gewann die Performance bereits den Publikumspreis der Rotterdam International Duet Choreography Competition. Genauso verständlich.
Ab in den Hauptsaal. Unter dem Sternenhimmel des MiR warten wir auf „Oh Fortuna“, Orchester, Chor und Tanzensemble auf uns. Die Vorstellung beginnt auf beiden Seiten des eisernen Vorhangs, die Hälfte der Tänzer*innen davor, die andere dahinter. Es dauert, bis sich die Wand nach oben öffnet, bis auch Orchester und Chor, gerade wahrnehmbar belichtet, im hintersten Teil der Bühne erscheinen. Aber dann dauert es eben doch nicht lange, bis die Wucht dieses Stücks sich entfaltet.
„Oh Fortuna!“
In all der wechselhaften Dynamik, die dieses Stück so beliebt macht, knallen und flüstern Chor und Orchester einwandfrei. Und vorne? Zeigt die Dance Company modernen Tanz in handwerklicher Perfektion. In tight abgestimmter Koordination füllen die 13 Tänzer*innen die vordere Bühnenhälfte. Oft in schnellen Gruppenchoreographien, die weh tun würden, käme das Gegenüber auch nur eine halbe Sekunde zu spät. Es wird sich viel geduckt. Durcheinander gerannt, gesprungen. Gerade der Kontakt untereinander, und sei es manchmal auch nur der minimale, ist ein prägendes Element der Performance. Wie ein Flummi, gefangen in einer Goldfischkugel, zuckt die Energie von Tänzer*in zu Tänzer*in, entsteht aus der Berührung mit der Fingerspitze eine Wucht, die eine ganze Gruppe auf den Boden knallen lässt. Generell passiert viel auf dem Boden. Es wird gekrochen, gerutscht oder auch einfach für mehrere Minuten intensiv gelegen. Immer wieder fließen Elemente von urbanen Tanzformen wie Popping ein. Die großen, aber trotzdem nie die Sicht versperrenden Bühnenelemente dienen dem Ensemble wie Ramps im Skatepark. Akrobatisch beeindruckend, und gleichzeitig der Ort, um kurz zu verschnaufen. Denn niemand tanzt hier 1:40h durch, das wäre bei der Intensität unmöglich.
Fokus verlieren und wiederfinden
Die Blicke im Publikum sind oft erstaunt. Manchmal gehen sie alle an einen Ort. Zum Beispiel, wenn eine*r der drei herausragenden Solist*innen singt. Oft aber sind die Blicke des Publikums wild verteilt. Es passiert viel. Gleichzeitig. Vorne und hinten.
Mein Blick schweift oft von Ort zu Ort: Von den Bässen im Chor auf den Dirigenten auf die schwer atmende Tänzerin, die auf der Bühnenbildtreppe liegt, hin zu einem Tänzer, der in einem Rohr über die Bühne gerollt wird. Das sind die Momente, in denen vorne wenig mit dem übereinstimmt, was hinten passiert, weil zu viel passiert. Wo keine klare Geschichte erzählt wird oder nicht erzählt werden will. Wo ich überfordert bin.
Doch gerade dann, wenn die Intensität von Musik und Tanz übereinstimmen, zum Beispiel bei dem dramatisch-romantischem „Circa mea pectora“ und ganz besonders beim finalen „Oh Fortuna“, wird aus dem Klassiker das, was sich doch alle wünschen. Etwas Frisches, Neues, Beeindruckendes. Wo die Dance Company die anderen Ensembles nicht überstrahlt, sondern erweitert. Dann wird daraus mehr als die Summe seiner Teile. Der Teile, die ohnehin zu Dauerstaunen, in dieser Fülle aber auch zu Überforderung führen können.
Elf Theater und zwei Festivals im Ruhrgebiet haben sich zu den RuhrBühnen zusammengeschlossen, um die Einheit in der Vielfalt erlebbar und sichtbar zu machen. Die STROBO-Redaktion hat jede von ihnen besucht, um euch zu zeigen, was jeder Ort auch für junge Menschen parat hält.
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