Der Zeit entziehen – Die Ausstellung „Crip Realities: Against the Clock, Into the Future“

In der Ausstellung „Crip Realities: Against the Clock, Into the Future“ in Dortmund stellten Künstler*innen aus, die sich mit den Lebensrealitäten, Erfahrungen und Zukunftsperspektiven von Menschen mit Behinderung auseinandersetzen. Mit dabei: Künstlerin Ise, sie widmet sich in ihrer Arbeit dem Thema Zeit im Zusammenhang mit Queerness und Behinderung. Das möchte sie in einem Workshop zugänglich machen.

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Es ist kurz nach drei und der Workshop hätte schon anfangen sollen. Ise muss aber noch schnell ihre Materialien testen. Wegen irgendeinem Fußballspiel – mal wieder – stand sie auf dem Weg nach Dortmund im Stau und in der Innenstadt war alles zugeparkt. Deswegen muss sie jetzt die Kunststoffplatte rauskramen und die blaue Farbe mit einer kleinen Rolle darauf verteilen. „Eigentlich mache ich das immer mit einem Spiegel, da ist die Oberfläche glatter. Aber so klappt das auch gut. Heute machen wir es damit.“

Künstlerin Ise verteilt mit einer kleinen Farbrolle blaue Farbe auf einer Druckplatte.
Künstlerin Marie-Luise Charlotte Weier leitet den Workshop zum Monoprinting an. Foto: Yakob Aziz.
Künstlerin Ise verteilt mit einer kleinen Farbrolle blaue Farbe auf einer Druckplatte.

Ise heißt eigentlich Marie-Luise Charlotte Weier. Neben ihrem Kunstobjekt, bietet sie in der Ausstellung “Crip Realities“ auch einen Workshop mit dem Namen „Taking Time Printing Session“ an. Dafür ist Ise heute extra aus den Niederlanden angereist. In Eindhoven hat sie ihren Master in Contextual Design gemacht. Ein Teil ihrer Masterarbeit ist hier in der Ausstellung zu sehen.

Die Theorie greifbar machen

Im Auto zur Ausstellung saß die Künstlerin gemeinsam mit der Kuratorin von “Crip Realities”, Miriam Wolter: „Es geht in der Ausstellung darum, die Perspektive von Behinderten zu zeigen und ihre verschiedenen Realitäten. Und das auf eine künstlerische Art und Weise.“ Angelehnt ist der Ausstellungstitel an das sozialwissenschaftliche Konzept der Crip Time, welches innerhalb der Disability Studies eine alternative Sichtweise auf Zeit und Zeitwahrnehmung schaffen will – abseits von Produktivitäts- und Effizienzdenken in der heutigen Gesellschaft.

Im Vordergrund ist die Kuratorin Miriam Wolter vor der Installation mit Toninstallation zum Thema der unbrauchbaren Reproduktion zu sehen, im Hintergrund die Workshopteilnehmer*innen auf Hockern.
Miriam Wolter vor der Installation “Do you wanna hear about the tear in my body?”. Foto: Yakob Aziz.

Um diese Theorie näher ans Publikum zu bringen, hat Miriam Wolter diese Ausstellung entworfen. In dem kleinen, gemütlichen Raum sind insgesamt sechs Kunstobjekte von sechs Künstlerinnen zu sehen. Die 33-jährige will damit einen Ort schaffen für Begegnungen, Sichtbarkeit und Empowerment. Entworfen hat die Düsseldorferin die Ausstellung als Teil ihrer Abschlussarbeit in ihrem Master Scenographic Design and Communication an der FH Dortmund: „Mir war es wichtig, dass es in der Ausstellung unterschiedliche Darstellungsformen und Materialien gibt. Also unterschiedliche Ausdrucksformen zu ähnlichen Themen.“

“Alle denken daran, wenn es um Barrierefreiheit geht”

Ganz hinten im Raum – man kann es von der Eingangstür fast nicht übersehen – steht das Kunstobjekt von Ise: Ein „begehbares, dreidimensionales Buch, das Besucher*innen physisch erkunden können“, wie es im Handout zur Ausstellung steht. Ise beschäftigt sich in dem Buch mit Crip Theory, einer Schnittstelle zwischen den Disability- und Queer Studies. Sie dokumentiert auf den Seiten ihre Auseinandersetzung mit gelebten Erfahrungen von Behinderung und chronischen Krankheiten in Bezug auf Zeit und Präsenz.

Der gesamte Ausstellungsraum in mit einem länglichen Tisch in der Mitte, der aufgespannten Haut und dem begehbaren Buch im hinteren Teil.
Die Ausstellung im Hans C: Das begehbares Buch von Ise ist hinten links zu sehen. Foto: Yakob Aziz.

Die erste Seite zeigt den Startpunkt von Ises Auseinandersetzung: Ein Foto auf dem das blaue Schild mit einem weißen Rollstuhlfahrer vor einer zugeschneiten Brücke abgebildet ist. Ein Schild, dass symbolisch für jegliche Behinderung steht. „Die wenigsten behinderten Menschen können sich überhaupt mit diesem Symbol identifizieren. Aber alle denken natürlich daran, wenn es um Barrierefreiheit geht“, erzählt Ise zu Beginn ihres Workshops.

Ise führt in ihrer Einführung durch das begehbare Buch, blättert eine Seite nach der nächsten um. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht das Konzept der Crip Time. Ise beschreibt, dass Menschen mit Behinderungen oft in eigenen Zeitrhythmen leben – mit Erholungsphasen, Umwegen wegen Barrieren oder unvorhersehbaren Pausen. Diese Verschiebungen der Zeit zeigen, dass die vermeintlich normale Zeit ein gesellschaftliches Konstrukt ist, das auf Produktivität und Effizienz aus ist.

Detail: Kataloge zu den Themen Crip time und Design und Behinderung.
Vorne im Ausstellungsbereich liegen Kataloge und Bücher zum Durchblättern. Fotos: Yakob Aziz.

Die kleine Gruppe Workshopteilnehmer*innen hat sich auf niedrigen Hockern im hinteren Teil der Ausstellung zusammengefunden. Die Stimmung ist ruhig. Im Hintergrund hört man die Akustik aus dem Kunstwerk von Linda Nasdalack. Dann sollen alle im Raum für zwei Minuten ihre Augen schließen. „Achtet darauf, wie sich die Zeit so anfühlt für euch“, sagt Ise noch. Dann ist es im ganzen Raum still.

Mit Kunst Bewusstsein schaffen

Während der Ausstellungszeit finden außerdem Workshops und eine Lesung statt. „So kommen die Leute zusammen und können sich austauschen. Mir war es nämlich auch wichtig, hier Community Buidling zu machen“, erklärt Miriam. Sie erhofft sich dadurch vor allem, dass die Ausstellung einen ersten Zugang für das Publikum bietet und Bewusstsein für das Thema schafft. Besonders wichtig für die Umsetzung war ihr, dass alle Künstler*innen selbst Betroffene sind und so von ihren Realitäten erzählen können.

Beim Workshop von Ise geht es weiter mit dem Hauptteil: der Printingsession. Ise selbst erzählt, dass es ihr helfe diese theoretischen Konzepte von Crip Theory und Erfahrungen mit Zeit und Produktivität zu visualisieren. Dafür designt sie gerne Plakate und das wollen wir heute auch machen – mit Monoprinting. Vor jede*r Teilnehmer*in liegt jetzt eine Kunststoffplatte, auf der sie mit einer kleinen Rolle Farbe verteilen und in der Mitte des Sitzkreises ein Stapel Papier zum Bedrucken. „Ich habe oft das Gefühl gegen die Zeit zu arbeiten. Aber ich merke ja auch immer wieder, dass ich mich der Zeit nicht entziehen kann“, sagt Ise während sie die blaue Farbe auf ihrer Platte ausrollt. Deswegen müsse man andere Methoden finden, sich dem Druck der Zeit zu entziehen. Dann geht es los: Ein Papier auf die Farbe legen, mit den verteilten Holzstäben ein Muster oben auf das Papier malen und das Papier wieder abziehen. Schon ist der erste Druck fertig.

Ise steht zwischen den druckenden Workshopteilnehmer*innen und verteilt zwei unbedruckte Papiere.
Beim Monoprinting gehen die ersten Papiere aus. Künstlerin Ise verteilt Neue. Foto: Yakob Aziz.

Gemeinsam Zeit und Kunst neu denken

Mit im Workshop sitzt Shaqayeq Mohammadi. Sie studiert wie Miriam an der FH Dortmund Scenography Design and Communication und hilft Miriam auch bei der Betreuung der Ausstellung. Shaqayeq hat schnell zehn Drucke fertig: „Die Methode ist ja toll, das könnte ich bis morgen machen.“ Wellen, Ecken, Zacken. Alles was sie möchte, kann Shaqayeq auf das Papier drucken – und das sehr einfach und schnell. Sie hält ein Blatt in die Gruppe: „Guckt mal, das ist der Ozean.“

Gegenüber von ihr hält eine andere Teilnehmerin einen ihrer vielen Drucke hoch: „Ja! Das habe ich grade auch gemacht!“. Je mehr die Teilnehmer*innen in Übung kommen desto unterschiedlicher werden die Formen. Ise sagt: „Es geht nicht um das eine Meisterwerk, sondern um die vielen kleinen Ergebnisse dazwischen. Ich mag diese Methode, weil es nicht um das Ende geht, sondern um den Prozess.“

Alle drucken, viele bedruckte papiere liegen um die kleine Sitzgruppe auf dem Boden verteilt.
Die Drucke aus dem Workshop liegen überall auf dem Boden zum trocknen verteilt. Fotos: Yakob Aziz.
Eine Teilnehmerin legt einen weiteren Druck auf den Boden.

Das Ende kommt aber trotzdem. Langsam stehen alle Teilnehmer*innen auf. Einige schlendern noch durch die Ausstellung. Shaqayeq schaut nochmal auf ihre Drucke und steckt sich einige für Zuhause ein. Im Raum bleibt ein leises Gefühl, gemeinsam Zeit und Kunst neu gedacht zu haben. Miriams und Ises Ziel, mit der Ausstellung und dem Workshop neue Impulse und Ideen zu schaffen, geht auf.

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