Familien-Nostalgie und neue alte Bauten – Unterwegs auf der Route Industriekultur Teil 5

Industriekultur. Wo fängt man da bloß an? Stahl? Zu hart. Kohle? Zu ausgelutscht. Einen thematischen Anker gibt es aber noch, den wir hier auswerfen können: Wasser. STROBO-Autor Jacob war zum Thema Wasser unterwegs auf der Route Industriekultur und ist am Ende auf einem magischen Berg gelandet.

“Stehs’e auf’m Gasometer im Sturmesbrausen und alles watte siehs’ is’: Oberhausen.” Das haben die Missfits mal gesungen. Ja, eine Referenz, die so ziemlich das Gegenteil widerspiegelt von einem Magazin, das sich “junge Kultur” auf die Fahne schreibt. Aber so viele Songs über Oberhausen gibt es ja nunmal nicht. Und es ist eine der ersten Sachen, die mir immer in den Kopf schießt, wenn ich diese überdimensionale Tonne am Horizont stehen sehe.

Zu meinen STROBO-Kollegen, die auf anderen Routen unterwegs waren, gibt es heute einen Unterschied: Ich bin weder mit Schwester noch mit Vater und auch nicht mit dem Fahrrad unterwegs. Ich nehme einfach aus purer Neugier, ein bisschen aus Nostalgie und ganz allein den Kulturweg auf mich. Mit dem öffentlichen Nahverkehr. Denn ich will die Chance auch endlich ergreifen. Wie ein Römer, der noch nie das Colosseum gesehen hat, war ich nämlich noch nie im Sturmesbrausen auf dem Gasometer. Also: Musik an, Route Industriekultur.

Foto: Ludger Staudinger

Von Gas-Tonnen und Unterwasser-Welten

Für mich war der Gasometer immer mit Wasser verbunden. Aber klar, der eigentliche Zweck steckt natürlich im Namen: Gas. Hier wurde einfach Gas gespeichert, das später wieder in den lokalen Kokereien gebraucht wurde. Ein bisschen recht hatte ich mit dem Wasser-Gefühl dann aber doch: Denn die Tonne dient mittlerweile natürlich nicht mehr der Industrie. Heute ist hier Kunst und Kultur an der Tagesordnung. Seit ich denken kann, gibt es hier immer verschiedenste Kunst zu bewundern. Und wie’s der Zufall so will, trägt die aktuelle Ausstellung den Namen: Planet Ozean. Wasser. “Das Glück ist mit die Doofen.”, würde irgendjemandes Vater jetzt sagen.

Die Ausstellung zeigt die verschiedenen Lebensformen der Meere und verbindet sie gekonnt mit Themen des Arten- und Naturschutzes. Sie zeigt, wie eindrucksvoll Kultur Wissen vermitteln kann und mir wird auf’s Neue klar, wie wichtig diese Orte sind. Diese riesigen Projektionsflächen alter Industrie, die durch den Kulturbetrieb einen neuen Nutzen gewinnen.

Foto: Dirk Böttger
Foto: Dirk Böttger

Aber eins geht mir nicht aus dem Kopf: Ich wollte doch eigentlich auf’s Dach. Um zu sehen ob der Reim “Sturmesbrausen – Oberhausen” wirklich etwas taugt. Von innen geht es in einem gläsernen Aufzug nach oben. Oben angekommen, kann man dann nochmal auf das äußere Dach fahren. Wer weniger faul ist, läuft 592 Stufen. Den Aufzug im Anblick, die Stufen abgewogen, wird mir klar: Das wird heute nichts mehr. Meine Höhenangst kriegt mich da nicht hoch. Aber liebe Menschen, Archetyp Ausflugsrentner, verraten mir: Sturmesbrausen, das stimmt. Aber man sieht wohl sehr viel mehr als Oberhausen: “Schalke ham wa jesehen auch.”

Malocher*innen und Mittagspause in Mülheim

Froh über die zufällige Wasser-Ausstellung und die genaue Schilderung der Aussicht, mache ich mich auf den Weg, mehr zu erkunden. Nächster Halt: Nachbarstadt Mülheim. Ja, an der Ruhr! Wasser schonmal ganz sicher und ohne Zweifel abgehakt. Wie in allen Ruhgebietsstädten liegt die restliche Industriekultur hier in Mülheim natürlich auf der Hand. Ein tatsächliches Denkmal wollte ich aber schon immer mal sehen: Den Ringlokschuppen. Hier wurden die Dampflokomotiven der Industrie geparkt und vom ansässigen Wasserturm versorgt. Und diese Lagerhalle in Halbkreis-Form steht hier jetzt schon über 100 Jahre nahezu unverändert in der Gegend herum. Aber das Ruhrgebiet wäre ja nicht das Ruhrgebiet, wenn man nicht auch für den alten Schuppen eine neue Verwendung finden würde.

Perspektivwechsel-App

Wer mehr über die Geschichte des Ruhrgebiets wissen möchte, sollte die Perspektivwechsel-App der Route der Industriekultur auschecken. Dort könnt ihr zum Beispiel einen Kohlentreiber, einen Bergbaubeamten oder eine Hausfrau der damaligen Zeit begleiten und mit einem virtuellen Tourguide mehr über das Leben in den Zeiten des frühen Ruhrbergbaus oder der Hochphase der Industrialisierung erfahren. Die App gibt es kostenlos in allen App-Stores.

Genau wie beim Gasometer, wurde hier ein Umschwung gewagt. Wo früher alte, wahrscheinlich ordentlich verrußte Eisenbahnen ihre Heimat hatten, wird heute Kultur zelebriert – in allen möglichen Formen. Vor allem aber: Schauspiel und alles, was performativ ist. Kurz vor Beginn der neuen Spielzeit im Winter kann man sich hier auf ein abwechslungsreiches und diverses Programm freuen. Lesungen, Theaterstücke, Comedy-Shows, Performances. Wer sich anschaut, wie viel das Team hier auf die Beine stellt, bemerkt: Hier wird noch heute richtig malocht.

Foto: Dennis Stratmann

Das Kulturangebot, das mich gerade aber am meisten reizt, ist ehrlicherweise: Das Essen. Ein großes Herz gibt’s für das im Ringlokschuppen untergebrachte Restaurant Ronja für das breite vegetarische und vegane Angebot. Wer einen Tag lang durch den Pott reist und so viele Eindrücke sammelt, braucht eben auch mal eine Stärkung. Vegane Schnitzel, Suppen, mediterranes Gemüse – für alle etwas dabei. Für mich auch! So ein Gemüseschnitzel und eine Portion Reis bringen mich wieder auf die Beine. Aber wohin als nächstes?

Sonnenuntergang auf dem “Magic Mountain”

Naja, wieder eine Stadt weiter eben. Nach Duisburg. Hier steht nämlich dieses komische geschwungene Ding, dass ich immer nur aus der Entfernung aus dem Autofenster sehe. Auch wenn ich nie so richtig gecheckt habe, was genau die Skulptur hier soll, war ich nicht überrascht, dass sie zur Route Industriekultur gehört. Um also kurz mal zu meiner ewigen Frage: “Samma wat is dat eigentlich für’n Teil?” auf den Grund zu gehen, wird der Tag zu eben dieser Beantwortung genutzt.

Und siehe an, “dat Teil” hat sogar einen richtigen Namen: “Tiger & Turtle – Magic Mountain”. Gut, Wasser gibt’s hier zwar nicht direkt. Neugier und Magie müssen aber reichen. Wann hat man schonmal einen Tag frei, um sich selbst solche offenen Fragen zu beantworten?

Wie dem auch sei: Die begehbare Skulptur hat aber einen ganz eigenen Charme in den frühen Sonnenuntergängen dieses Herbstes. Sie ist zu einer richtigen Landmarke geworden. Dabei gibt es sie erst seit 2011. Quasi das jüngste Stück Industriekultur des heutigen Tages. Aber so schnell gewinnt man die Herzen des Ruhrgebiets eben für sich. Und gut, der “Magic Mountain” darunter, die Halde, ist eben ein Überbleibsel der Pott-Geschichte.

Während ich darauf warte, wie die LEDs des Achterbahn-Kunstwerks aufleuchten, fällt mir auf, wie innovativ und unermüdlich diese Region eigentlich ist. Ständig drauf und dran, etwas neu zu machen, alte Orte neu zu gestalten. Diese riesigen Bauten wie das Gasometer oder den Ringlokschuppen am laufen zu halten. Dafür braucht man Menschen, die das echt wollen. Und dabei eben nicht nur nach dem “Aus alt, mach neu”-Motto zu handeln, sondern die Geschichte dieser Orte am Leben zu halten, ist eigentlich eine Kunst für sich. Mit Kunstwerken, Bühnenprogramm und gutem Essen.

Ach ja: Eine Mörderaussicht hat man von hier auch. Und Sturmesbrausen. Ganz ohne auf’s Gasometer zu müssen.


Die Route Industriekultur verbindet als touristische Themenstraße die wichtigsten und attraktivsten Industriedenkmäler des Ruhrgebiets. Zum Netz der Route zählen 27 Ankerpunkte, Standorte mit besonderer historischer Bedeutung und herausragender touristischer Attraktivität. Daneben gehören 17 Aussichtspunkte, 13 Siedlungen und zahlreiche Themenrouten zur Route Industriekultur. Weitere Informationen findet ihr auf der Website.

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