Wer in Bochum am Wochenende spät nach Hause will, der fährt mit dem Nachtbus. Und am Steuer? Sitzt jemand wie Guido. Ein Portrait über einen, der die Nacht liebt.
01:20 Uhr Abfahrt. Guido macht die Bustür nochmal auf. Ein Fahrgast kommt angerannt, steigt hastig ein, bedankt sich. Guido lächelt ihn an, macht die Bustür wieder zu. Wenn sich jemand so beeilt, dann würde er den doch niemals stehen lassen, sagt Guido. 26 Menschen sitzen in seinem Bus. In seinem NachtExpress. 26 Menschen, die ohne Guido heute vermutlich wesentlich schwerer nach Hause kämen. Oder wesentlich teurer. Guido drückt aufs Gaspedal, der Motor surrt, die Fahrgäste unterhalten sich laut. Einer, Mitte bis Ende zwanzig, sportliches Parfum, telefoniert erst und versucht dann seinen befreundeten Sitznachbarn davon zu überzeugen, noch auf eine Party mitzukommen. Der antwortet ihm müde: „Nein Bruder, ich will einfach nur noch nach Hause!“ Auch im Laufe der Busfahrt wird er es nicht schaffen, ihn zu überzeugen.
„Spaß inne Backen“
Guido mag das, wenn es laut ist: „Gerade in der heutigen Zeit, wo alle viel auf’s Handy gucken. Wenn ich den Siebener oder den Achter fahre…“ die NachtExpresse (NE), die an der Zeche vorbeikommen, einem Club in Bochum, in den man oft auch schon ab 16 Jahren kann, „… dann singen die im Bus, die haben richtig Spaß inne Backen. Ich find das genial, wenn die so richtig aus sich rauskommen!“
Heute fährt er den NE1, seine Lieblingsroute. Guido ist 53 Jahre alt, gebürtiger Bochumer, Familienvater, weißer Bart auf rundem Gesicht – einem Gesicht, dass durchzogen ist von Lachfalten. Guido lacht sowieso viel, er lächelt seine Fahrgäste an, wenn sie einsteigen. Nicht alle lächeln zurück, schauen lieber aufs Handy, oder können sowieso nicht mehr ganz geradeaus gucken. Findet er schade, sagt er, anderes Servicepersonal begrüße man ja auch.
Der Gelenkbus ist gut gefüllt, die eine Hälfte unterhält sich, die andere Hälfte schaut aufs Handy, auf Instagram oder TikTok. Eine Person scheint ihre Kopfhörer vergessen zu haben, leiser Deutschrap kommt aus dem Handylautsprecher. Übertönt wird er durch Konversationen, den Dieselmotor und die Haltestellenansagen.
„Teilweise kriegst du hier Gespräche mit, die willst du gar nicht hören“ sagt Guido und schmunzelt. „Also ich hab auch kein Problem, wenn der Bus ruhig ist. Aber sind wir mal ehrlich, hier vorne ist es manchmal auch ganz schön langweilig!“
Guido lenkt den Bus geschickt durch die graue Bochumer Innenstadt. Nur an den Haltestellen warten Leute, sonst ist keine Seele zwischen den Bürotürmen zu sehen. Das Neonröhren-Deckenlicht gedämpft von warmweißen Plastikbedeckungen, es wird heller, wenn er hält. Dann wieder dunkler, keine Minute später wieder hell. Die Haltestellen liegen nah beieinander. Wie die Straßenlaternen auf seiner Route, die ihn heute Nacht treu begleiten. Viermal wird er an jeder vorbeifahren, Abfahrt am Bochumer Hauptbahnhof um 01:20 Uhr, 02:20 Uhr, 03:20 Uhr und 04:20 Uhr. Feierabend um 05:30, dann was Kleines essen, um 06:30 liegt Guido im Bett. 14 Uhr steht er wieder auf. Das Gehalt liegt, je nach Erfahrung, bei 3000 bis 3700 Euro Brutto, dazu kommt noch der Nachtzuschlag.
Vom Maler mit Manta zum NachtExpress
„Ich hab hier bei der Bogestra…“ so heißt die Gesellschaft, die sich in Bochum und Gelsenkirchen um den Nahverkehr kümmert, „…vor circa 20 Jahren angefangen. Immer schon Spätschichten gefahren. Weißt du, ich komm eigentlich vom Bau. Malerlehre. Und da war dat so gewesen, da musstese immer früh raus. Immer der gleiche Trott. Und jetzt, den Rest bis zur Rente, wollte ich mal auffe anderen Seite verbringen und spät anfangen.“ Guido spricht, wie Menschen aus dem Ruhrgebiet so sprechen. Hömma, kumma, wat, dat – herzlich, direkt. „Früher bin ich mitm Manta um den Block gefahren, jetzt fahre ich mitm Bus, allerdings ohne Vokuhila und Cowboystiefel. Und das Goldkettchen hängt auch zu Hause! Und ein bisschen mehr PS hab ich, und mehr Leute!“ Wieder lacht Guido. Er quatscht gerne. Stellt man eine Frage, antwortet er ausführlich, will aber eigentlich direkt selbst etwas fragen.
Auf dem Weg sind noch ein paar ältere Menschen zugestiegen, ein paar jüngere Menschen ausgestiegen. Die meisten sind unter 40, etwas mehr Männer als Frauen, der Großteil wäre jetzt offensichtlich schon gerne im Bett. Guido meint, so ein richtiges Klischee wer mitfährt, das gäbe es nicht: „Du hast hier Nachtschwärmer dabei, dann natürlich Menschen, die zu tief ins Glas geguckt haben, aber auch Leute, die im Anzug einsteigen. Von Freitag auf Samstag, in der letzten Schicht, fahren viele mit, die zur Arbeit müssen. Das ist alles sehr sehr bunt gefächert!“ Und ein bisschen komme es auch auf die NE-Linie an. Fährt der Bus an einem Club vorbei, sei natürlich mehr Remmi-Demmi. Eine andere NE-Linie „ist aber auch keine Garantie für Ruhe, irgendwo kann immer ne Party sein und zack, hast du den Bus voll!“
Mittlerweile ist der NE1 in Wattenscheid angekommen, ein großer Stadtteil am Rand von Bochum, nahe Gelsenkirchen. „Nächste Haltestelle: August-Bebel-Platz.“ Die Frauenstimme kommt vom Band, automatisch, das regelt ein GPS-Sender. Von den anfangs 26 sitzen nach diesem Stopp nur noch 4 im Bus verteilt. Der August-Bebel-Platz ist ein Verkehrsknotenpunkt. Hier treffen sich der NachtExpress aus Bochum und der aus Gelsenkirchen. Wer von Stadt zu Stadt will, muss umsteigen. Tagsüber fährt hier die 302, eine Straßenbahn, die vom Westen über den Osten Bochums bis in die Nachbarstadt fährt, inklusive Stopp an der Arena auf Schalke. Warum nicht auch nachts?
Die Stadt gibt vor, was fährt
Direkt hinter Guido sitzt Imke Franke auf einem der bunt besprenkelten Bus-Sitze. Sie ist Junior-Pressesprecherin der Bogestra, fährt extra für das Interview mit Guido mit und weiß die Antwort: „Das ist von den Städten einfach so nicht bestellt. Wir als Bogestra bedienen ja immer die Bedürfnisse der Städte, die sie im Nahverkehrsplan festlegen.“ Der Nahverkehrsplan ist ein großer Bericht, in dem die Lage des ÖPNV analysiert und bewertet wird. Die letzte Fassung für Bochum stammt aus 2017.
Die 302 nachts fahren zu lassen, das lohne sich nicht. Dabei gehe es der Bogestra und den Städten gar nicht um Profit. Den macht das Nahverkehrsunternehmen sowieso nicht, letztes Jahr allein gab es ein Defizit von rund 88 Millionen Euro. Doch ÖPNV sollte auch gar nicht gewinnorientiert sein, sagt Imke Franke. Die Bogestra nutze zuallererst den Bürger*innen und dürfe daher auch Verluste machen.
Guido hört ihr zu und ergänzt, dass er gehört habe, dass in Dortmund und Essen die Nachtbusse sogar unter der Woche fahren würden: „Das wäre ja cool, wenn das hier auch wäre!“ Doch dafür fehle der Bedarf, so Imke Franke. Bochum sei ja nochmal etwas kleiner als die Nachbarstädte. Das sei auch der Grund, warum die Nachtbusse nur stündlich fahren. Imke Franke dreht sich nach hinten und blickt in den fast leeren Bus: „Ich würd sagen, hat ja gepasst, oder?“
Also fährt Guido seinen NachtExpress auch weiterhin nur in den Nächten von Freitag auf Samstag, von Samstag auf Sonntag und in den Nächten vor Feiertagen. Den Rest der Zeit übernimmt er Spätschichten, die um circa 1 Uhr enden. Vor einem halben Jahr hat er sich darauf beworben, sich hauptsächlich auf die NEs fokussieren zu dürfen. Damit ist er einer der wenigen Busfahrer*innen in Bochum, die fast nur nachts fahren.
Eine Entscheidung, die nicht jede*r nachvollziehen kann. „Als ich das gemacht hab, kamen Kollegen auf mich zu, die meinten: „Boah Guido, warum tust du dir das Ding jetzt überhaupt noch an? Auch mein alter Teamleiter war schockiert. Aber ich will das halt!“
Spätdienst zu fahren, das sei einfach entspannter, die Straßen seien leerer, viele Ampeln aus. „Und die Leute sind anders. Und da bin ich wirklich positiv von überrascht gewesen. Die sind einfach dankbar, dass du sie nach Hause bringst. Sicher, ab und zu ist auch Remmi-Demmi, aber im Großen und Ganzen find ich es einfach schöner als den Tagdienst. Mir macht das ehrlich Spaß!“
„Oh Mann, der arme Kerl!“
Die Route heute Nacht führt auch durch wenig bebaute Straßen. Randbezirke. „Damit jeder in Bochum erreicht wird“, sagt Imke Franke. Zu Beginn kann Guido noch ein paar Bus-Kolleg*innen grüßen, dann teilt er sich die Straße fast ausschließlich mit Taxen. Wenn sie Platz für seinen großen Bus machen, bedankt er sich. Nach 40 Minuten, irgendwo in Bochum Hordel, liegt ein toter Igel auf der grauen Straße. Guido weicht aus: „Siehst du den? Oh Mann, der arme Kerl!“ Er wird ihm heute noch drei weitere Mal ausweichen.
Die NachtExpresse fahren so, dass sie nach knapp 50 Minuten wieder am Hauptbahnhof ankommen. Immer im Kreis. Die Pause nutzt Guido, um kurz mit den Kollegen zu quatschen, aufs Klo zu gehen oder einen Schluck Tee zu trinken. Tee ist es zumindest in der ersten Pause, in der zweiten wird Guido einen Energy-Drink rausholen. Viel Zeit bleibt nicht, dann startet die Tour wieder von vorne. Wieder ist der Bus halbvoll, wieder begrüßt ihn etwa die Hälfte der Fahrgäste, wieder lächelt er freundlich zurück. Aber diesmal ist Daniel dabei.
„Daniels Hobby: NachtExpress“
Daniel und Guido kennen sich, der 36-Jährige bleibt direkt vorne stehen, hat kein Interesse sich überhaupt hinzusetzen. Die Kapuze des grauen Ziphoodies bleibt auf seinem Kopf, um den schmalen Oberkörper trägt er eine schwarz-orangene Sporttasche von FitX, einem Fitnesstudio. Daniel freut sich, Guido zu sehen, Guido freut sich, mit Daniel zu quatschen.
Daniel erzählt, er sei gerade schon eine Runde bei einem neuen NE-Fahrer mitgefahren. Guido und Daniel reden über den letzten Urlaub, einen anstehenden Werksverkauf, „Da musst du hin, da gibt’s wieder richtig Schnäppchen“, und über Streckensperrungen. NE-Fahren ist Daniels Hobby.
Er versteht sich gut mit den Fahrer*innen, kennt so 6 bis 7 persönlich. Eine Lieblingsroute habe er nicht, er schaue einfach immer am Hauptbahnhof, worauf er gerade Lust habe. „Nur wenn ich am nächsten Tag arbeiten muss, dann kann ich keinen NE fahren.“ Wie viele Runden er dreht, hänge immer davon ab, wie anstrengend sein Tag schon war. Heute scheint viel los gewesen zu sein, es ist erst 02:30, die zweite NE-Runde, doch für Daniel geht es jetzt schon nach Hause.
Guido fährt, während er redet, den Bus, als sei es das Leichteste der Welt. Ein Krankenwagen kommt von hinten, Guido wartet, die Fassaden werden kurz blau, dann verschwindet der RTW an der nächsten Kreuzung. Guido fährt weiter, stoppt an der nächsten Haltestelle. Das Licht im Bus wird heller, dann wieder dunkler.
Daniel muss gleich schon raus. Hat er eine*n Lieblingsfahrer*in? „Nein, ich mag alle“, sagt er hastig, als würde er ein Quiz beantworten. Dann hält er kurz inne: „Wobei, doch!“ Er zeigt mit dem Finger nach vorne: „Guido! Mit dem kann man so gut quatschen!“
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