Dieser Beitrag entstand im Rahmen einer Medienpartnerschaft mit: RuhrBühnen. Die RuhrBühnen haben keinen redaktionellen Einfluss auf die Rezension.
Mit „Istanbul“ schafft das Theater Essen etwas, was selten gut gelingt. Ein vielschichtiges politisches Thema wie Arbeitsmigration emotional greifbar zu machen.
Lesedauer: 3 Minuten„Das sollte sich Friedrich Merz mal dringend angucken!“ Der Gedanke an den aktuellen Bundeskanzler ist leider der Erste, der mir kommt, als bei „Istanbul“ das Saallicht wieder angeht. Viel lieber würde ich wie meine Sitznachbar*innen noch weiter das Lied von Sezen Aksu mitsummen. Mithilfe der Musik einer der einflussreichsten Sängerinnen der Türkei erzählt das Stück die Geschichte von Klaus (Stefan Diekmann), der als deutscher Gastarbeiter nach Istanbul emigriert. „Istanbul“ dreht die historische Geschichte um. Nicht Deutschland benötigt dringend billige Arbeitskräfte, sondern die Türkei.

Also auf an den Bosporus, wo dank Anwerbeabkommen Geld und Arbeit locken. Wir begleiten Klaus beim demütigenden Gesundheitscheck, auf der Zugfahrt gen Osten, beim Ankommen und Vereinsamen. Beim Türkisch lernen und Freunde finden, Arbeiten, Fremdgehen, Frau und Kind nachholen und schließlich auch beim Sterben. Eine typische Gastarbeiter*innen-Geschichte, wie es sie in diesem Land zu Tausenden gab und gibt. Nur diesmal aus deutscher Sicht.
Klaus Beerdigung bildet den klugen Rahmen der Inszenierung. Das Skelett sind die Dialoge, mit viel Witz geführt, oft auf Deutsch, manchmal auch auf Türkisch. Das Herz aber sind die Lieder. Die Bandbreite, von tiefster Melancholie bis frisch verliebt, macht „Istanbul“ so sehenswert. Die Verbindung von Klaus Biographie mit dieser überaus emotionalen Musik ist sicher nicht sonderlich innovativ, aber effektvoll und perfekt dosiert. Besonders die Schauspieler*innen, die fließend Türkisch sprechen, glänzen in den musikalischen Passagen. Vielleicht, weil sie im Gegensatz zu den Kolleg*innen, die für das Stück die türkischen Texte „nur“ auswendig gelernt haben, sich noch mehr auf die Intonation konzentrieren können. Gerade im Vergleich zur überragenden Ceren Bozkurt (Saz und Gesang) wird das deutlich, aber sei’s drum, die Aussprache sitzt.

Besonders nahegehende Momente kreiert das Ensemble immer dann, wenn es das Publikum integriert. Durch die kreative Bestuhlung sitzt ein Teil der Zuschauer*innen an Picknicktischen auf und direkt vor der Bühne. Wer möchte, kriegt dort Çay, Rakı und Simit serviert, kann beim Halay mittanzen oder sogar einzelne Liedstellen ins Mikro singen. Der Mut wird durch extra Applaus des Publikums belohnt. Das applaudiert generell viel, und lacht ebenso viel. Auch wenn ein paar Szenen mit Slapstick irritieren, einmal imitiert Klaus ein Kuh, wirft sich zu Boden und kaut imaginäres Gras, so braucht es den Humor, um die Balance zu den berührenden Songs zu halten.
Was mir besonders gefällt: Manchmal lacht auch nur circa die Hälfte des Publikums. Dann wurde gerade ein Witz auf Türkisch gemacht. Nur wer beide Sprachen spricht, gehört plötzlich zur In-Group. Egal ob gewollt oder nicht, das spiegelt ganz kurz das Gefühl des Nicht-Dazugehörens auf die andere (nur deutsche) Hälfte des Publikums. Ein ungewohntes Gefühl. Aber eben das Gefühl, das Klaus auf der Bühne verkörpert. Und das die bilinguale Hälfte im Saal vermutlich noch besser kennt als er.

Und so ist „Istanbul“ eben mehr als nur ein lustiger Abend, an dem man türkische Lieder entweder neu kennenlernt oder mitsingt (oder beides). Es ist eine gelungene Anleitung zur Empathie mit Menschen, die nach mehr als 50 Jahren von Vielen leider immer noch nicht als deutsch angesehen werden. Ein dringender Perspektivwechsel, in der die Geschichte der Gastarbeiter*innen nahbar und nachvollziehbar erzählt wird. Hoffentlich läuft das Stück auch mal in Berlin.
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