STROBO-Autor Tobi hat seinen Vater eingepackt und war mit dem Rad auf der Route Industriekultur unterwegs. Was er dabei über seine Kindheit, die Region und Fahrrad-Rentner:innen gelernt hat, erfahrt ihr im Beitrag.
„Komm, wir machen eine Fahrradtour“, ein Satz, den ich früher oft gehört habe. Mein Vater ist begeisterter Radler und wenn mir am Wochenende langweilig war, gab es dafür eine einfache Lösung. Selbst im Familienurlaub war klar, wo es hingehen musste: Dorthin, wo es gute Radwege gibt. Zum Teil sind wir einfach an idyllischen Flüsse in Süddeutschland entlang geradelt: Donau, Lahn, Ahr und wie sie alle heißen. Doch für Wochenend-Ausflüge brauchten wir kein Bayern, kein Weinanbaugebiet. Da reichte einer der heimischen Fahrradwege und zack, waren wir an der Ruhr, im Zoom Gelsenkirchen oder auf Zollverein.
Es ist schon länger her, dass mein Vater und ich gemeinsam gefahren sind. Und es ist noch länger her, dass ich im Urlaub in der Heimat war. Zwischen Uni, Arbeit und Freund*innen bleibt wenig Zeit für Tourikram. Aber gerade sind Semesterferien und mein Vater hat Zeit. Ich brauche nicht viel Überredungskunst und wir sitzen auf den Satteln. Er jetzt mit Elektroantrieb, dafür immer noch mit einer unübersichtlichen Sammlung an gefalteten Radwegkarten in der Fahrradtasche. Ich, wie immer unvorbereitet, mit einer von meinen Eltern geklauten Sprudelwasserflasche – ebenfalls in seiner Tasche. Unser Ziel: Das Weltkulturerbe Zollverein in Essen.
Spaß auf Trassen
Das Schöne: Ab der Jahrhunderthalle in Bochum fahren wir, ohne uns die Spur mit einem Auto teilen zu müssen. Alles geht über Fahrradwege, die auf den ehemaligen Gleisen von Güterstrecken gebaut wurden. Dazu kommt: Züge mögen keine großen Steigungen. Ich auch nicht. Fahrradfahren ist hier also extrem entspannt.
Wir starten im Bochumer Westpark, gerade im Sommer ein beliebter Spot. Vorbei an ehemaligen sowie weiterhin genutzten Gebäuden des Bochumer Vereins, einem der ehemaligen Big Player der Stahlindustrie im Ruhrgebiet. Zu Hochzeiten ackerten hier 20.000 Menschen. Früher wurden hier Glocken für Kirchen geschmiedet, heute Räder für Züge. Der Weg, auf dem wir die kommenden Kilometer fahren werden, war die Direktverbindung zwischen Stahlwerk und dem Rhein-Herne-Kanal.
Wir fahren rauf auf die Erzbahntrasse, über die imposante Erzbahnschwinge und plötzlich: Leer und Grün. Gerade unter der Woche ist es hier verdammt leise. Es ist so, als ob wir wieder im abgelegenen Radurlaub sind und nicht in einer der am dichtesten besiedelten Regionen Europas. Baumkronen links und rechts verwandeln den Asphaltweg zwischenzeitlich in einen Tunnel. Ab und zu kommt eine Brücke, aber sonst ist hier nicht viel. Dank Bahndamm können wir einfach fahren. Mein Vater stellt die elektrische Unterstützung auf die niedrigste Stufe.
Radler bei Holger
Nach knapp 6 Kilometern biegen wir scharf ab. Die Erzbahntrasse würde uns jetzt weiter zum Hafen Grimberg führen, aber wir wollen nach Essen. Genau an diesen Knotenpunkt, zwischen zwei viel befahrenen Fahrradwegen, hat sich ein findiger Geschäftsmann namens Holger gedacht: „Perfekter Ort für ne Bude.“ Und Recht hat er. Auch unter der Woche sind die Picknicktische voll mit Radler*innen und Radler.
Wir aber hätten uns noch keine Pause verdient, dafür müssten wir ja erstmal was schaffen, sagt mein Vater. Für den Muskelkater am nächsten Tag und für die gute Aussicht fahren wir also von unserer Fahrradtrasse ab, jetzt Kray-Wanner-Bahn genannt, und rauf auf die Halde Rheinelbe. 100 Meter über Normalnull liegt die Spitze dieser Aufschüttung. Sie besteht aus allem, was in der Zeit der gleichnamigen Zeche so an die Oberfläche getragen wurde, und keine Kohle war oder brachte.
Wer das Prinzip von Halden einmal verstanden hat (so kompliziert ist es ja auch nicht) sieht sie plötzlich überall im Ruhrgebiet. Hier braucht es keine Millionen Jahre von tektonischen Verschiebungen, hier macht man sich die Berge einfach selbst. Mein Vater schaltet den Elektromotor eine Stufe höher.
Paradedisziplin „Gucken“
Oben angekommen belagern ein paar Fahrrad-Rentner*innen die Kuppel, auf der die „Himmelstreppe“ steht. Der Höhepunkt des auf der Halde angelegten Skulpturenparks. Skulpturen, die oft aus Überbleibseln der Industriezeit stammen. Wie sehr will ein Ort Strukturwandel schreien? Die Fahrrad-Rentner:innen bleiben hartnäckig, aber das ist kein Problem. Mein Vater schafft auch eine Ebene unterhalb des Kunstwerks in seiner Paradedisziplin zu glänzen: Kraftwerke, Kirchen, Stadien und weitere Landmarken erkennen und dann sagen: „Guck mal da, siehst du diesen Strommast? Dann weiter nach links, dann etwas runter bei dem Kirchturm, rechts neben den Bäumen? Das sieht man jetzt nicht so gut, aber genau da wohnen wir!“ Hachja.
Wieder auf‘s Fahrrad rauf, die Halde runter und weiter auf den Zollvereinweg. Die Namen der Wege protokolliere ich übrigens nur, weil ich sie so schön finde. Niemand muss sich das merken, jede Weggabelung ist gut ausgeschildert.
Industrie-Extravaganz
Knapp 30 ruhige, grüne Minuten später erblicken wir die ersten Gebäude des, und ich übertreibe nicht, riesigen Zollverein-Geländes. Wer sich vorstellen möchte, wie viel Betrieb auf Europas größter Zeche herrschte, der braucht eine gute Fantasie. Nicht, dass die Gebäude nicht noch stehen, es ist einfach so ruhig hier. Dass diese Industriegebäude verdammt ästhetisch sind, denke ich nicht allein. Gefühlt jede dritte Person hat eine dicke Spiegelreflexkamera um den Hals hängen, alle wollen das einfangen, was es in dieser Extreme auf der Welt selten gibt. Industrie-Chick.
In Zollverein treffe ich zum ersten Mal am Tag auf Menschen, die nicht deutsch sprechen. Oder nur so halb. Viele Holländer*innen und ein paar Familien, die noch Sommerferien haben.
Zollverein fühlt sich von allen Dingen im Ruhrgebiet am konzentriertesten an. Bedenkt man die Message, die einem die Route Industriekultur so gerne vermitteln möchte: STRUKTURWANDEL, INDUSTRIEKULTUR! Das sind ja alles schöne Wörter. Wer aber die orangene, ewig lange Rolltreppe hoch zum Ruhr Museum fährt, der checkt sie auch.
Perspektivwechsel-App
Wer mehr über die Geschichte des Ruhrgebiets wissen möchte, sollte die Perspektivwechsel-App der Route der Industriekultur auschecken. Dort könnt ihr zum Beispiel einen Kohlentreiber, einen Bergbaubeamten oder eine Hausfrau der damaligen Zeit begleiten und mit einem virtuellen Tourguide mehr über das Leben in den Zeiten des frühen Ruhrbergbaus oder der Hochphase der Industrialisierung erfahren. Die App gibt es kostenlos in allen App-Stores.
Als Kind habe ich mich nicht wirklich für das Ruhrgebiet geschämt, es war mir halt einfach egal. Aber jetzt, Anfang zwanzig, bin ich stolz hier zu wohnen, auch wenn ich keinen echten Anteil an dem Ganzen habe. Zechenromantik, Wortspiele mit Pott, das kann man schnell peinlich, weil boomerig, finden. Am Ende der Rolltreppe denke mir aber: Hätte ich jetzt Besuch von Freund*innen, ich würd ihnen stolz das Welterbe Zollverein zeigen.
Angenommen, ich hätte Besuch
Dann würden wir vielleicht eine der zahlreichen Führungen machen: Durch die Kohlenwäsche, die alte Kokerei oder eine, die sich speziell an Fotograf*innen richtet. Würden uns die Dauerausstellung im Ruhr Museum angucken, vielleicht auch die Sonderausstellung zu Marga Kingler, einer der krassesten Pressefotograf*innen der Region.
Und wenn die Freund*innen noch ein paar Tage länger blieben, könnten wir uns im Portal der Industriekultur anschauen, wo wir als nächstes hinwollen. Zum Zentrum für Internationale Lichtkunst in Unna? Zum Gasometer in Oberhausen? Zur Villa Hügel nach Essen? Alle Ankerpunkte der Route Industriekultur sind im Portal in Zollverein vertreten. Dazu gibt’s einen 360 Grad Film über das Ruhrgebiet, der auch mir als Einheimischen noch etwas beibringt. (Wusstet ihr, dass es hier 87 Naturschutzgebiete gibt? Ich nicht.) Mit vielen Hintergrundinfos zu den einzelnen Orten und dem Film bietet das Portal den perfekten Startpunkt für alle, die Urlaub im Ruhrgebiet machen wollen. Ob hier heimisch oder nicht.
Rückweg
Während ich mir das alles anschaue, sitzt mein Vater entspannt im Museumscafé. Ich hole ihn nach einer knappen halben Stunde wieder ab und erzähle ihm von der Anzahl der Naturschutzgebiete. Er ist nicht sonderlich erstaunt, sein Portal der Industriekultur ist eh die Kombination aus den Faltkarten in der Fahrradtasche und, naja, seinem Alter. Wie wir hingekommen sind, geht’s auch zurück. Runter von Zollverein, an der Halde Rheinelbe vorbei, Radler bei Holger und durch den Westpark nach Hause. 50 Kilometer hat uns die Tour gekostet. Gewonnen hab ich 5 entspannte, grüne Stunden. Aber auch ein neues Selbstverständnis über die Region, in der ich nicht nur lebe, sondern in Zukunft auch mehr Urlaub machen werde.
Die Route Industriekultur verbindet als touristische Themenstraße die wichtigsten und attraktivsten Industriedenkmäler des Ruhrgebiets. Zum Netz der Route zählen 27 Ankerpunkte, Standorte mit besonderer historischer Bedeutung und herausragender touristischer Attraktivität. Daneben gehören 17 Aussichtspunkte, 13 Siedlungen und zahlreiche Themenrouten zur Route Industriekultur. Weitere Informationen findet ihr auf der Website.
Bock auf mehr STROBO? Lest hier: Gabelstapler fahren & Tagträumen – Ein Tag auf der Route der Industriekultur