Null Zucker: Nackt im Theater- über Heimatgefühle und Zugehörigkeit

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Dieser Beitrag entstand im Rahmen einer Medienpartnerschaft mit: RuhrBühnen. Die RuhrBühnen haben keinen redaktionellen Einfluss auf die Rezension.

Sprache ist ein täglicher Begleiter. Eine Neue zu lernen sollte eigentlich ein Vorteil sein und kein Nachteil, oder? Einige von uns begleitet sie geradezu selbstverständlich. Andere stoßen auf Grenzen, Entfremdung und Unsicherheit. Charmant und schwermütig zeigt das Schauspielhaus Dortmund die Uraufführung “Nullzucker. Ein süßer Abend über die Muttersprache”. Tief verborgene Gefühle, Wut, Enttäuschung und eine Gelegenheit zum Austausch.

Ich bin aufgeregt, fast schon nervös. Ich war sehr lang nicht mehr im Theater. Es fühlt sich fast so an, als hätte ich es verlernt. Warm eingepackt stapfe ich zur U-Bahn-Station. Das Wetter stimmt mich nachdenklich. Also perfekt fürs Theater. Über eine Treppe gelange ich in einen dunklen Raum. Das Studio des Dortmunder Schauspielhauses. Es ist beidseitig mit jeweils zwei Reihen von Stühlen besetzt. In der Mitte steht ein Container aus Holz, den ein ein einziger warmer Scheinwerferstrahl beleuchtet. Ich suche meinen Platz. Bis schließlich Ruhe einkehrt. Es geht los.

Mutter – Sprache

Auf der Außenfläche des Containers läuft die Übertragung einer Kamera, die sich in dem Container selbst zu befinden scheint. Zwei Männer und eine Frau im Dialog. Alle von unterschiedlichen Sprachen anders geprägt. In einer Sache finden sie sich jedoch alle wieder: So süß, wie die eigene Sprache, wird eine neue nie schmecken können.

„Meine Sprache war mein erstes Zuhause”.

Ich denke nach. So habe ich das nie betrachtet. Nie betrachten müssen. Aber klar, du wächst mit ihr auf. Nur sie hat dir damals geholfen einzuschlafen, wenn deine Eltern dir ein Schlaflied vorgesungen haben. Nur sie hat dich jeden Tag im Kindergarten, in der Schule, auf der Arbeit begleitet. Wenn du wütend warst, wenn du für jemanden oder dich selbst eingestanden bist, wenn du jemandem zeigen wolltest, wie wichtig er dir ist. Sie war überall mit dabei. 

Die Protagonist*innen: Lukas, Fabienne-Deniz und Mouataz. Foto: Birgit Hupfeld.

500.000 Wörter 

Mouataz, Fabienne-Deniz und Lukas mussten ihre erste Sprache und damit auch ihre Heimat hinter sich lassen. Ihre Welt hat sich verändert. Ein Leben, das sich darum dreht, sich immerzu anzupassen. Nur um sich vielleicht eines Tages wieder so zu fühlen, so wohl zu fühlen, wie früher. 

Mouataz spricht in einem bewegenden Monolog darüber, wie er die Sprache Wort für Wort verinnerlicht hat. Aber trotzdem nie genug war. Er wird ständig daran erinnert, dass er eben doch nicht ganz dazugehört. “Ich begann mich für den Akzent meines Vater zu schämen!” Und verliert in all den Bemühungen, die deutsche Sprache zu lernen, seine Verbindung und seine Gefühle zu seiner Heimat. “Muttersprache ist mehr als Worte. Sie ist fern wie eine Stadt, die ich verlassen musste, deren Name ich immer wieder schreibe, damit ich ihn nicht vergesse.” Eine Wechselbeziehung zwischen Distanz und Nähe. 

Dabei sollte es doch etwas Schönes sein, wenn sich jemand bereit erklärt, die eigene Sprache zu lernen. Tanju Girişken, der Regisseur des Stückes, spricht immer von einer Großzügigkeit. Die deutsche Sprache umfasst etwa 500.000 Wörter. Als kurzer Vergleich: Englisch mit 600.000 Wörtern ist die umfangreichste Sprache, die es gibt. Eine Sprache zu perfektionieren dauert Jahre. Es erfordert Geduld. Seine Detailbesessenheit abzulegen. Einige Sprachgewohnheiten aufgeben, für andere, neue, Platz machen. Es ist fast so, als gäbe es hierzulande ein unausgesprochenes Perfektionsstreben dem eigentlich niemand gerecht werden kann.

Käse und Gefühlsstriptease

Lukas ist in der Schweiz aufgewachsen. Anfangs witzelt er noch über Käse, gerät geradezu aus der Fassung. Später dann wird er ernst. Ernst darüber, nicht ernst genommen zu werden. Denn so einfach ist das Ganze gar nicht. Sprache ist eng verknüpft mit Gefühl. In einem Seelenstriptease über die Schwierigkeit, die Gedanken und Gefühle im Kopf zu verbalisieren, formuliert er:

“Die ganze Zeit leite ich meine Emotionen zwischen den Sprachzentren um und meine Gefühlsnerven zeigen ständig einen Richtungswechsel.” Das Gesprochene ist nicht immer auf demselben Kurs wie die Gefühle und umgekehrt.

Permanent daran erinnert zu werden, dass man nicht dazugehört, kann ermüden. Oder wütend, aufgebracht, ja eigentlich doch selbstwirksam machen. Und das erzeugt, im Rahmen des Stücks, eine unglaubliche Wirkung. 

„Null Zucker“ wird im Studio des Dortmunder Schauspielhaus aufgeführt. Foto: Birgit Hupfeld.

Sprache frei für die Bühne

Ich sitze auf dem Stuhl, total gebannt und schäme mich fast. Ich bin verärgert. Ich will auch etwas ändern. Denke an Situationen, in denen ich vielleicht anders hätte handeln können. Von Beginn an ist das Schauspiel unterlegt mit einer Nähe, einer Direktheit. Manchmal lache ich, merke aber, wie es mir ein wenig später im Hals stecken bleibt. Der Raum wird dunkel. Das Licht geht an und die Schauspieler*innen beugen sich demütig Richtung Boden. Gebührender Applaus. Ich gehe die Treppe runter in die Eingangshalle bis zur Tür. Erst an der frischen Luft, greife ich das Stück. 

Ich bin dankbar, den Einblick in so intime Gefühle und Probleme gehabt zu haben. Es hinterlässt auch ein Gefühl der Wirksamkeit. Auch wenn ich mich ein wenig schäme, dass ich diesen Standpunkt nicht kannte. Diese Gefühle, diese Probleme innerhalb dieser Gesellschaft, mit denen so viele jeden Tag kämpfen müssen. Aber gerade dieses nackt machen, verwundbar machen, weil man all diese Konflikte ausspricht, erzeugt in mir ein ganzes Bild, das in einem Gefühl der Wirksamkeit mündet.


Elf Theater und zwei Festivals im Ruhrgebiet haben sich zu den RuhrBühnen zusammengeschlossen, um die Einheit in der Vielfalt erlebbar und sichtbar zu machen. Die STROBO-Redaktion hat jede von ihnen besucht, um euch zu zeigen, was jeder Ort auch für junge Menschen parat hält.

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