Schatten und Lippen – Geschichte und Poesie am Schlosstheater Moers

Dieser Beitrag entstand im Rahmen einer Medienpartnerschaft mit: RuhrBühnen. Die RuhrBühnen haben keinen redaktionellen Einfluss auf die Rezension.

STROBO-Autorin Anna Klinge war zu Besuch bei einer ganz besonderen Lesung der französischen Autorin Marine Bachelot Nguyen.

Lesedauer: 4 Minuten

Es ist kurz vor sechs am Sonntagabend. Gestern wurden die Uhren umgestellt und die Kapelle, einer der Spielorte des Schlosstheater Moers, liegt bereits im Dunkeln. Das ehemalige Gotteshaus steht auf einer Grünfläche. Direkt daneben befindet sich ein Autohaus – typisch Ruhrgebiet. In einem kleinen Zelt verkaufen die Mitarbeitenden Getränke und Tickets. Nach und nach versammeln sich die Interessierten. Heute scheine ich den Altersdurchschnitt erheblich zu senken. Pünktlich um sechs öffnen die Türen und wir können in die Kapelle herein.

Was außen nach Kapelle aussieht, ist innen zu einem kleinen Theaterraum ausgebaut. Auf zwei Ebenen finden ungefähr 30 Menschen Platz. Heute bleiben noch einige Plätze leer. Vorne befinden sich ein Tisch, zwei Mikros, Moderator Gabriel Rodriguez Silvero und die Autorin Marine Bachelot Nguyen. Sie spricht Französisch, Gabriel übersetzt. Zunächst stolpere ich über diese Abwechslungen, zumal mein Schulfranzösisch mich nur einzelne Worte verstehen lässt. Nach einigen Minuten wirkt es aber bereits ganz natürlich. Es fühlt sich an, als ob ich mich nicht in Moers, sondern irgendwo zwischen Vietnam und Frankreich befinde.

Autorin Marine Bachelot Nguyen steht im beigen Oberteil vor neutralem Hintergrund und lächslet in die Kamera.
Autorin Marine Bachelot Nguyen. Foto: Caroline Alaine.

Von Vietnam und der eigenen Identität

Die vorgetragene Lektüre trägt den Namen „Schatten und Lippen“. Ngyuen schreibt darin über ihre verstorbene Mutter, die mit ihr verbundenen Wurzeln im Vietnam und über die vietnamesische Pride-Bewegung. Der Text wirkt wie ein Selbstgespräch – die Anrede „Du“ nimmt das Publikum mit auf ihre persönlichen Erfahrungen: Kurz vor dem Tod ihrer Mutter entwickelt sich im Vietnam die Pride-Bewegung. Die Autorin will vor Ort mit den Menschen sprechen. Sie sucht Antworten dafür, wie in einem solch restriktiven Land eine so progressive Bewegung aufblühen kann. Ihre Mutter ist begeistert und doch ängstlich: „Was soll die Familie denken?“ 

Ein Jahr nach dem Tod ihrer Mutter reist Ngyuen los. Mit poetischen Beschreibungen erzählt sie die Geschichte vom Vietnam. Ich mache mir eine innere Notiz, später unbedingt nachzulesen, welche politischen Ereignisse sie alle beschreibt. Es geht um Kriege und den Schmerz, den diese auf der vietnamesische Identität hinterließen. Der Text bewegt sich zwischen den kleinen Details und dem großen Kontext. Er ist lustig, ernst und traurig und folgt keinem genauen Schema. Die Kapitel wirken wie einzelne Puzzlestücke. Jedes gibt mehr Einblicke in das Leben im Vietnam und das Leben der Autorin. Schnell wird deutlich: Es geht nicht nur um andere queere Menschen, sondern auch um ihre eigene Identität und die damit verbundene Scham.

„Du brauchst nur zu leben. Du brauchst nur zu lieben“

Ngyuens Beschreibungen der Pride-Parade im Vietnam wirken wie eine Befreiung für die Teilnehmenden, aber auch für die Autorin selbst: „Hier verschwimmen die Blicke, die Körper, sind Jungen und Mädchen schwer zu unterscheiden“. Sie erzählt von einer neuen Gemeinschaft – von queeren Menschen und ihrem Leben im Schatten. Nicht immer verstehe ich, ob das Geschriebene ein Gedankenspiel der Autorin oder doch Wirklichkeit ist. Aber vielleicht ist das auch egal. Das Gefühl, dass trotz großer Pride-Parade die Identität vieler queerer Menschen noch immer versteckt wird, bleibt. 

Es fällt der Begriff  „Pinkwashing“, der die  Nutzung von queeren Identitäten für politische Zwecke beschreibt. Die queere Community sei gut für die Wirtschaft, Vietnam ein offenes und progressives Land, so das Narrativ. Doch die Autorin will sich und ihre Charaktere nicht in diesen Nutzen drängen: „Wir sind hier schon immer gewesen, wir leben in euren Familien, wir ruhen auf euren Friedhöfen. Der Kampf der queeren Community in Vietnam durch die Pride-Demonstrationen sei also nicht das Ende und auch nicht der Anfang. Er laufe aber stetig fort: „Wir sind Schatten und Lippen, wir spuken an euren gezogenen Grenzen“.

Moderator Gabriel Rodriguez Silvero im dunklen Sakko und gestreiften Hemd schaut über seine Schulter.
Moderator Gabriel Rodriguez Silvero. Foto: Markus Bachmann.

Neue Fragen auf dem Heimweg

Am Ende des Stückes gibt es einen langen Applaus. Ich freue mich über die Auseinandersetzung der älteren Menschen im Raum mit der queeren Community. In meiner städtischen Bubble sind das Leben und die Herausforderungen queerer Menschen längst klar. Hier scheinen einige der Besucher*innen ganz neue Einblicke gewonnen zu haben. Selbst für mich haben sich hier neue Fragen eröffnet, und das nicht nur zum Vietnam. Wie viele der positiven Entwicklungen für die queere Szene weltweit waren wohl wirkliche Befreiung und nicht bloß politisches Kalkül?

Marine Bachelot Nguyen gibt mit ihrem Werk einen ersten Raum zur Auseinandersetzung mit dieser Thematik – politisch und persönlich. Ihr Spannungsfeld zwischen Fiktion und Dokumentation,ihrer Identität und der Gesellschaft begleitet mich gedanklich auch noch auf dem Heimweg durch den kühlen Herbst.

Am 13. Dezember feiert die Inszenierung des Stücks „Söhne“ auf Basis des gleichnamigen Textes von Marine Bachelot Ngyuen in der Kapelle Premiere.

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