Zwischen einer twerkenden Oma und einer Urne spielt sich für eine kurze Stunde das Schauspiel “Das geheime Leben der Alten” auf den Ruhrfestspielen Recklinghausen ab. STROBO-Autorin Alea war vor Ort und berichtet von Humor, Rentnersex und der Illusion der Jugend.
Lesedauer: 5 MinutenContent Note: Dieser Text thematisiert unter anderem Suizid. Er enthält eine Passage über suizidale Gedanken und Handlungen im Kontext eines Theaterstücks. Bitte lies den Text nur, wenn du dich damit wohlfühlst. Hilfe und Unterstützung findest du z. B. bei der Telefonseelsorge (0800 111 0 111), anonym und kostenfrei.
Die Omas mit den grauen Haaren in den Reihen vor mir, zwölf Ausführungen des selben Haarschnitts, hatten alle wohl schon einmal Sex. Ein spontaner Gedanke, der mich erst einmal abschreckt. Alte Menschen wirken auf mich oft abstrakt, viel zu weit entfernt von meiner Realität. Vielleicht ist das auch der Grund, dass mit Anfang 20 meine Begleitung und ich mit Abstand die jüngsten Menschen sind, die am Dienstagabend im kleinen Saal des Ruhrfestspielhauses sitzen. Kaum jemand denkt gerne über den Sex seiner Großeltern nach.
Auf der Bühne stehen sechs Rentner*innen, alle mit Brille, eine Pflegerin, ein Erzähler und eine Urne. Sie erzählen von Sexualität, Lust, Leidenschaft und dem Wunsch nach Nähe – von dem Leben im Altersheim. “La vie secrète des vieux” heißt das Schauspiel von Mohamed El Khatib. Ein Stück, das auf seinen Erfahrungen mit älteren Menschen in französischen Seniorenheimen basiert. Neben einem Wasserspender und einer Pflanze lässt El Khatib jede Menge Raum, um seine Protagonist*innen ihre eigenen Erfahrungen teilen zu lassen. Sie sind alle zwischen 75 und 100 Jahre alt, auch ihnen fühle ich mich zunächst fremd.
Das Stück öffnet mit einem der Protagonisten, der auf die Bühne kommt, er versucht zu knien, um das Licht am Fußhebel anzumachen. Er braucht eine Weile. Zwischen ihm und dem Publikum sind die Spuren des Alterns immer präsent. Vor uns spielt sich unsere Zukunft ab, nicht im Detail und auch nicht so, als wäre es ein Garant, dass wir das Alter überhaupt erreichen werden, sondern ein Funke von dem, was sein kann. Es startet ein Disclaimer: Aufgrund des Alters des Ensembles könnte es natürlich sein, dass einer von ihnen während des Auftrittes stirbt.

“Socken sind der Tod für die Libido” und andere Weisheiten
Einer der Alten spricht von seinem ersten Mal, 1953. Die Erinnerung ist geblieben. Nicht nur an das erste Mal, sondern auch an die Neugierde, die Aufregung und die Angst vor Ablehnung. In voller Offenheit erzählen sie von dem ersten Orgasmus mit 65 (“Jetzt kann ich in Ruhe sterben!”), religiöser Erziehung, dem Verstecken vor der eigenen Sexualität und ihrem Fazit am Ende des Lebens. Das Stück ist komisch, das soll es auch sein. Eine der Protagonistinnen twerkt mit ihrem Rollator zu der Musik ihres Liebhabers. Einer erzählt, wie er vom “heißen Feger zum Eisblock” wurde und dass aus zu viel Viagra ein “dritter Krückstock” entsteht. Omas und Opas verkünden plump, dass sie gerne wieder flachgelegt werden möchten – einfacher bringt man einen Saal nicht zum Lachen. Altern ist meist negativ konnotiert. Zwischen der Angst vorm Sterben und Anti-Aging-Cremes vergessen wir oft, dass Altern kein Todesurteil für den Spaß am Leben ist. Und wenn man den Protagonist*innen Glauben schenken mag, knutscht man im Altersheim immer noch pausenlos für sechs Stunden, wie mit fünfzehn. Trotzdem blicken viele – mich eingeschlossen – mit Sorge auf diese Zukunft, ein Körper, der langsam schwächer wird und ein Gehirn mit dem vermeintlich selben Schicksal. Doch diese Ängste bleiben, selbst wenn man im hohen Alter bereits angekommen ist. Nicht nur für sich, sondern auch über die, die man liebt. “Ich habe Angst, dass es zu Ende geht”, teilt eine der Frauen des Stückes. Ihr Partner bekommt langsam kognitive Einschränkungen, vergisst Dinge, hat keine Lust auf Sex mehr. Sie fürchtet, er könnte sich im Altersheim in jemand anderes verlieben. Eine andere Frau spricht von der Angst, durch Liebe abhängig von einer Person zu werden. Im Alter ist sie mir mehrere Jahre voraus, aber was unterscheidet ihre Gefühle und Ängste von meinen? Mit 50+ haben sowohl die Älteren auf der Bühne als auch die Älteren im Publikum ihre eigene Portion Liebeskummer und Trauer erlebt. Und es macht allen Anschein, dass es nicht weniger weh tut, nur weil das Geburtsjahr ein paar Jahrzehnte zurückliegt. Es ist ein gewisser Stolz und naiv, zu denken, es wäre nicht so.

Ein Recht auf die eigene Lust
Zwischen den lustigen Anekdoten erzählen sie von einer Bewohnerin im Altersheim. Frisch verliebt schleichen sie und ihr neuer Liebhaber sich nachts ins Zimmer des anderen, bis sie von den Pfleger*innen erwischt und getrennt werden. Die Kinder des Mannes möchten nicht, dass er dort solche Beziehungen pflegt. Über den Balkon versuchen sie vergeblich, Kontakt zu halten, sich zu lieben, bis sich die Frau ihr Leben nimmt.
Da sie sonst meist nur lachen und tanzen, schlägt diese Geschichte überraschend stark in die Magengrube. Doch es ist nicht das einzige Mal, dass sie über die Infantilisierung durch Kinder und Pflegepersonal sprechen. “Worauf sind sie eifersüchtig?” fragen die Alten, verwundert, dass es die Kinder stört, dass sie noch Lust auf Sex haben. Durch die Worte schimmert eine Wut. Die Wut, dass die eigene Handlungsfähigkeit und der Freiraum für Entscheidungen weggerissen wurde. Es wird die Kultur thematisiert, die die Menschen, die einen einst großzogen, in Heime abschiebt, nicht besucht und alleine sterben lässt. Das Stück nimmt Kritik und auch ich sehe es als eine Kritik an mir.
“Aber ich habe geliebt”
sagt eine der Frauen auf der Bühne direkt zu Beginn. Ihr Fazit ihres Lebens. Es klingt so banal, aber alle der Protagonist*innen waren auch mal so alt wie ich. Ihre Erinnerungen bleiben, an die erste Liebe, die erste Trauer, die schönen Momente und die schwierigen. Der Humor bleibt und auch die Person bleibt sie selbst. Auch wenn das Gehirn vergisst und der Körper nachgibt, bleiben kleine Fetzen davon irgendwo in uns und vielleicht finden wir sie genau da wieder, wo wir sie nicht erwarten. Und vielleicht findet man genau an diesen Orten auch noch Zeichen dieser Liebe. Die Pflegerin erzählt von einer Seniorin, die jeden Tag von ihrem Mann besucht wurde. Als sie ihn langsam vergaß und dachte, sie wäre mit ihrem Zimmernachbarn verheiratet, kam er weiterhin, bis zu ihrem Tod. Ob wahre Leidenschaft und Liebe nun erst im Alter bewiesen wird und ob das überhaupt der Sinn des Ganzen ist, verrät das Stück nicht. Wie könnte es auch, wenn das Fragen sind, die uns seit Jahrhunderten umhertreiben. El Khatib zeigt mit “Das Geheime Leben der Alten” nur, dass Liebe und Libido nicht enden, nur weil das Gesicht mit Falten versehen und die Hüfte gebrechlich geworden ist. Es nimmt mir den Stolz zu denken, dass meine Jugend weniger vergänglich sei, dass es mich nicht verletzen würde, wenn mir das Recht auf Liebe und Nähe eines Tages genommen wird, ob durch meinen Körper, Kinder oder Pflegepersonal.
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