Spiel mir das Lied vom Leben – „Notte Morricone“ im Ruhrfestspielhaus

Dieser Beitrag entstand im Rahmen einer Medienpartnerschaft mit: RuhrBühnen. Die RuhrBühnen haben keinen redaktionellen Einfluss auf die Rezension.

„Ich wollte wissen, wie ein Mensch klingt, wenn niemand ihn ansieht.“ Das Zitat von Enrico Morricone erklingt auf Italienisch – immer und immer wieder. Der Satz soll bis zu den allerletzten Rängen durchdringen. Er wollte wissen, was im Menschen vorgeht. Das gleiche wollte der spanische Choreograf Marcos Morau über ihn herausfinden und bringt „Notte Morricone“ auf die Bühne in Recklinghausen.

Lesedauer: 4 Minuten

Morricones Melodien

Ennio Morricone ist mit seinem unverkennbaren Sound, der aus einer Mischung verschiedener Genres resultiert, zur italienischen Legende geworden. Sounds aus Maultrommeln, Pfiffen, Schreien und Peitschenknallen ergänzen das Klangerlebnis. Der Komponist war maßgeblich an der Entwicklung eines neuen Genres, des „Italo-Westerns“ beteiligt. In Filmen wie „Spiel mir das Lied vom Tod“ oder „The Mission“ begeisterte er mit seinen Soundtracks die Öffentlichkeit. Im Rahmen der Ruhrfestspiele in Recklinghausen wird sein Lebenswerk mit kreativer Hingabe gewürdigt. Im Fokus steht eine Nacht, in der Morricone wichtige Lebensphasen durchläuft. 

„Notte Morricone“ wird aufgeführt im Ruhrfestspielhaus in Recklinghausen. Foto: Anastasiya Meijer.

Der Vorhang fällt, doch das Saallicht bleibt an. Ein Junge spielt Schach, verliert und das Saallicht bleibt immer noch an, als würde der Bühnen- und Lichtdesigner Marc Salicrú sagen wollen: „Ihr, das Publikum, seid mächtig“. Ennio Morricone wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und war in der Öffentlichkeit äußerst beliebt. Damit war der Komponist abhängig vom Wohlwollen des Publikums, also von uns. Das italienische Ensemble „Aterbaletto“ führt „Notte Morricone“ im großen Haus des Veranstaltungsortes auf. Im vollen Haus – die Vorstellung ist ausverkauft. Kein Wunder, denn sowohl Marcos Morau, als auch das „Alterbaletto“ waren bei den Ruhrfestspielen bereits gern gesehene Gäste.

Monochrom mit Marionetten

In aggressiver schwarz-weiß-Ästhetik leuchtet bald nur noch die Bühne und die 90-minütige Hommage an den 2020 verstorbenen Komponisten nimmt Fahrt auf. Das Ensemble hat einen einheitlichen Look. Hosenträger, gegeltes Haar und starre Gliedmaßen bewegen sich über das dystopische Setting. Die choreografischen Elemente der Tänzer*innen sind ruckartig, wie Marionetten. Zusammen mit der spärlichen Farbpalette auf der Bühne erinnert das Geschehen an alte Schwarz-Weiß-Filme mit 14 bis 16 Bildern pro Sekunde – das Minimum, damit unser Gehirn Bewegung als Bewegung erkennt. Eine kleine Challenge also für die Augen, die sonst halb offen Netflix auf dem Flatscreen laufen lassen. Doch auch die Ohren sind gefordert. Denn auf der Bühne taucht immer wieder eine mysteriöse Maschine auf, die nicht ganz zu funktionieren scheint. Sie deutet eine Melodie an, die von anderen unterbrochen und weiterentwickelt wird, dazwischen immer wieder Störgeräusche. Es entsteht eine Art verkorkstes Medley aus bekannten und weniger bekannten Melodien von Morricones Schaffen. Es ist eine Liebeserklärung an den kreativen Prozess: Ideen, Studioaufnahmen, das Experimentieren mit Klängen. 

Träume und Tanz

Ennio Morricone war ein Träumer. Er wollte Schach spielen, Arzt werden oder Trompeter – doch nichts davon schien so wirklich seine Bestimmung zu sein. „Sag mir, ob ich das Leben vom Träumen unterscheiden kann“, ist eines von vielen Zitaten, die im Stück erklingen. Langsam entwickelt sich der Gedanke, ob das, was hier auf der Bühne passiert, vielleicht ein Blick in Morricones Phantasiewelt ist. Die Nacht, die „notte Morricone“, hält die Ambitionen und Träume des jungen Morricone fest. Aus einem jungen Schachspieler wird ein mittelmäßiger Trompetenspieler und schließlich ein Komponist, der voller Ideen steckt. 

In „Notte Morricone“ stehen 16 Tänzer*innen den Abend über auf der Bühne. Foto: Christophe Bernard.

Im Ensemble stechen zwei Tänzer heraus. Mit Brille und grauem Haar, das weit hinten ansetzt, wirken sie wie Alter Egos von Morricone. Ihre statischen Bewegungen lassen Morricone hilflos aussehen. Eine Stimme sagt „Ich war gezwungen, tonale Musik fürs Kino zu schreiben“ Die Zerrissenheit zwischen Schaffen und Sein verhandelt das Ensemble in einer Orchesterszene, in der eins der Morricone-Doubles ein Orchester dirigiert, das gar nicht spielt. Die Musiker*innen verschwinden nach und nach von der Bühne – trotzdem fährt Morricone das Dirigat mit ausladenden Bewegungen fort. Anschließend setzt ihn ein Tänzer in einen Drehstuhl. Er dreht sich im Stuhl allein auf der Bühne. Macht er, was er will, wird er verlassen. Wird er verlassen, verliert er sich und kreist um sich selbst.

Hommage mit Herz

Mit „Notte Morricone“ gelingt es Morau und Salicrú, dem Komponisten auf eine ganz eigene Art zu gedenken. Während viele der Ansicht sind, Morricones Musik und der dazugehörige Film würden sich gegenseitig bedingen, bringen sie Morricones Werke auf eine Theaterbühne. Sie stellen abstrakte Ideen, vergangene Träume und feierliche Rückblicke auf das Leben Morricones so bildstark dar, dass die kreative Welt des Komponisten fast zur eigenen wird.

Wer sich zuvor intensiv mit der Biografie und den musikalischen Werken des Komponisten auseinandergesetzt hat, kann visuelle Andeutungen wie das Schachspiel zu Beginn besser einordnen. Die Szenenwechsel können für Verwirrung sorgen, denn eine Nacht voller Träumen und Ideen kann nicht komplett Sinn ergeben. Sich ins kalte Wasser zu werfen, bedeutet weniger verstehen. Audiovisuell kommt aber jeder auf seine Kosten, denn Musik, Licht und Bewegung verschmelzen zu einem eindrucksvollen Gesamterlebnis. 

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