Noch bis Ende Mai präsentiert der Spieltrieb in Duisburg eine ganz besondere Form der Theaterinszenierung: Die junge Schauspielgruppe trägt in dieser Spielzeit ihre ganz eigenen Texte vor. STROBO war vor Ort und hat herausgefunden, was „WURZELN” so besonders macht.
Wo sind unsere Wurzeln – und wo führen sie uns hin? Diese Frage bildet nun den Mittelpunkt einer neuen Eigenproduktion des Spieltriebs in Duisburg. Der Jugendclub des Theaters inszeniert voller Schlagkraft die umfangreiche Interpretation des erst so simpel anmutenden Schlagwortes „Wurzeln“. Für das Stück kommen zehn junge Schauspieler*innen zusammen, die das Prinzip des Theaters neu interpretieren: Unter der Regie von Jule Pichler und Steven Wind feilte die Gruppe in den vergangenen Wochen nicht nur an der Darstellung des Stückes, sondern war auch an der gesamten Entstehung des Drehbuchs maßgeblich beteiligt.
„Ich bin schon das zweite Mal hier – das lohnt sich wirklich, man wird so mitgerissen“, verrät mir meine Sitznachbarin kurz vor dem Stück. Voller Begeisterung wartet sie darauf, dass es endlich losgeht. Sie sollte recht behalten – auch ich würde mir dieses Stück ein zweites Mal ansehen. Denn es entstehen so viele Eindrücke, dass man sie kaum an einem Abend wahrnehmen kann.
„WURZELN“ – Kleiner Raum – große Performance
Das Foyer III, das die Darstellung des Stückes beherbergt, ist im Verhältnis zum großen Saal des Theaters wesentlich kompakter. Dadurch aber auch um einiges persönlicher. Ein kleiner Saal mit 99 Plätzen und keiner direkten räumlichen Trennung zur Bühne bietet eine angenehme Nähe zwischen Zuschauern und Schauspiel. Ein Motto, das sich kontinuierlich durch das gesamte Stück zieht. Hier wird das ausgesprochen, was die meisten Menschen eigentlich gerne für sich behalten: Ängste, Sorgen und vor allem die Rückbesinnung dahin, wo die eigenen Wurzeln wachsen.
Direkt zu Beginn der Darbietung steht die Frage im Raum: „Wo hat denn alles nochmal angefangen?“. Daraufhin bricht eine Diskussion los, in der die Figuren des Stücks zwei Parteien bilden: Die einen fragen nach dem „Woher“ – die anderen wollen wissen: „Wohin?“. Die Charaktere sprechen simultan, um den Konflikt schärfer zu verdeutlichen. Es wird laut. Während sich die Streitigkeit in einem Hin und Her über die gesamte Bühne bewegt, verstricken sich die Figuren immer mehr in Details, ohne einen Ausweg zu finden. Schlussendlich löst sich eine der Beteiligten aus der Gruppe und versteckt sich hinter einem Vorhang. Sie hat Angst. Die Szene endet. Ohne, dass eine Lösung gefunden wird.
In einer Stunde gespanntem Zuhören wird das Publikum durch eine Reihe von emotionalen, harmonischen, aufgebrachten und humorvollen Szenen geführt. Die Darsteller*innen präsentieren als fluide Charaktere gemeinsam ihre Texte, gesprochen wie gesungen, in einer zusammenhängenden Inszenierung. In sich schlüssig und doch ohne einer klassischen Handlung zu folgen. Die Schauspielgruppe bildet eine dynamische Einheit, die gleichzeitig harmonisch und voller innerer Konflikte zu sein scheint. Manchmal zerstritten und aufgebracht, nachdenklich oder wie ferngesteuert. Diese Gefühle kann jede*r auf ganz individuelle Art und Weise nachempfinden, was sich auch im Publikum bemerkbar macht: es wird mitgefiebert, gekichert und gejubelt.
Das Szenenbild wird in die Köpfe des Publikums projiziert
Dazu ist das Bühnenbild ganz minimalistisch gehalten: Ein überlanger Vorhang schmückt den hinteren Teil der Bühne, gerahmt von dicken Seilen, die sich, ganz gemäß dem Titel und Thema des Stückes, von der Seite über den gesamten Boden der Bühne ranken.
Während des Spiels binden die Darsteller*innen diese Elemente kontinuierlich mit in die Handlung ein und erzeugen somit ein sich stetig veränderndes räumliches Bewusstsein entlang der Szenen. Es finden keine versteckten Umbauten statt, der rege Wandel des Bühnenaufbaus durch die Figuren trägt maßgeblich zum mitreißenden Charakter des Stückes bei.
Einmal wird die bevorstehende Umstellung des Szenenbildes sogar charmant auf der Bühne thematisiert: „Szene 8. Das Klavier muss irgendwie wieder auf die Bühne“, liest einer der Darsteller (Jannis Clemens) von seinen Notizen ab, während er allein am Mikro steht. So nimmt das Bühnenbild gerade genug Raum ein, um die sprachliche Bildgewalt der Texte nicht zu stören, sondern nur subtil zu untermalen und dem Publikum Raum für die eigene Vorstellungskraft zu gewährleisten.
Und ja, das Klavier schafft es auf die Bühne. Denn auch die musikalische Begleitung findet fast ausschließlich durch die Schauspielenden statt. Jannis Clemens am Klavier und Felia Weigelt als mystisches Fabelwesen mit der Geige begleiten im Vorder- und Hintergrund musikalisch den Gesang des Ensembles. Außerdem prägen sie die Szenen aber auch durch kleine Solo-Einlagen und die Untermalungen mit Soundeffekten.
Wie der Spieltrieb selbst am Drehbuch von „WURZELN“ beteiligt war
Dass die Darbietung des Stücks vor Überzeugung und Authentizität nur so strotzt, liegt wohl daran, dass die Entstehung des Drehbuchs eher unüblich ablief. Die Bühnenkünstler*innen im Alter von 16 bis 25 Jahren durften ihre Texte nämlich selbst formulieren. Ende Januar fand das erste Treffen statt, in dem die Grundidee und das Konzept des Stückes präsentiert wurden, woraufhin sich eine Gruppe herauskristallisierte, die in den darauffolgenden drei Monaten bis zur Premiere intensiv mit dem Stück befassten. Im Gespräch mit Jule Pilcher wird deutlich, wie frei und dynamisch die gemeinsame Arbeit an dem Theaterstück ablief. „Der Ablauf war sehr prozessorientiert”, verrät sie. Ideen wurden gemeinsam umgesetzt, besprochen, wieder verworfen und weiterentwickelt.
Die ersten vier bis sechs Wochen nutzten die jungen Schauspieler*innen ausschließlich dafür, Impulse zu sammeln und zu einer umfangreichen Materialsammlung zusammenzutragen, die die Gruppe dann in einer Art Schreibwerkstatt unter der Leitung der beiden Regisseur*innen und Theaterpädagog*innen Jule Pichler und Sven Wind ausformuliert und zu einem Skript verarbeitet hat. Schlussendlich macht sich auch auf der Bühne bemerkbar, dass die jungen Darsteller*innen die Möglichkeit bekommen, ihre eigenen Gedanken und Gefühle zur Schau zu stellen.
„WURZELN“: Ein Abend der sich lohnt?
Das Leitmotiv blieb hierbei konstant und bildet auch den Titel des fertigen Schauspiels: „Wurzeln“. So zieht sich die Analogie und Zweideutigkeit des Wachsens durch jeden der Texte, die Darsteller*innen beschreiben Blumen, die durch den Asphalt emporwachsen und meinen die eigene Bedrängung durch die Großstadt. Die Entwicklung des Menschen und das Wachstum in der Natur teilen sich die Position als Protagonist*innen, und so wird die eigene Verwirrung, die Angst vor Beziehungen und schweren Entscheidungen genauso emotional behandelt wie die Bedrohung der Erde durch den Klimawandel.
Durch die provokanten und intimen Texte und ein mitreißendes Schauspiel entstehen Eindrücke, die einen auch über den Theaterbesuch hinaus begleiten. Es handelt sich um ein sehr persönliches Stück, das alle von uns, egal wie alt, nachdenklich stimmt und die vieldimensionalen Vorteile des Theaters in vollen Zügen nutzt, um den Zuschauenden eine neue Perspektive ins Gedächtnis zu pflanzen.
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