Hardcore-Tee statt schniefenden Nasen: So fühlt sich ein Schlafkonzert an

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Die Partys, auf die STROBO-Autor Torben Kassler geht, sind.. normalerweise eher wild. Im krassen Gegensatz dazu steht das Schlafkonzert in Bochum, das vom Klangkünstler Heinrich Lenz veranstaltet wird. Torben hat den Selbstversuch gewagt und sich ins Reich der Schlafenden begeben – auf einem Betonboden und mit DJ-Musik.

Schwitzende Leiber, die sich in dunklen Kellergewölben zu 160 wummernden Bassschlägen pro Minute in Ektase tanzen; mahlende Kiefer und auf den Toiletten die Geräusche von schniefenden Nasen: So sehen die Partys normalerweise aus, wenn ich von Samstag auf Sonntag ausgehe. Aber nein, dieses Mal sollte alles anders sein.

„Lucidity Music“ nennt sich das Event in der Bochumer Quartiershalle, bei dem insgesamt fünf DJs das auf Isomatten gebettete und in Schlafsäcke oder Decken gehüllte Publikum über einen Zeitraum von fast zehn Stunden in eine Klangwelt aus ambienceartigen Synthesizerklängen, wohlig bis gespentischen Soundeffekten und dem ein oder anderen Gitarrensaitenzupfen entführen. So fand ich mich also an einem Samstag nicht auf dem Dancefloor, sondern auf dem harten Betonboden der ehemaligen Werkhalle der Bochumer Eisenhütte wieder – bei einem Schlafkonzert.

Als mich etwas mehr als eine Woche vor der Veranstaltung die Mail der Redaktion erreichte, ob ich nicht Bock hätte, eine Reportage über das Schlafkonzert zu schreiben, war meine Reaktion ein „Och joa, warum denn nicht!“ Also öffnete ich die Suchmaschine meines Vertrauens und hackte „Heinrich Lenz Schlafkonzert“ in die dortige Suchleiste. Heinrich Lenz ist Klangkünstler und der Veranstalter der Reihe.

„Das Schlafkonzert ist eine besondere Konzertform und eine außergewöhnliche Musikerfahrung: Die Dauer des Konzerts liegt zwischen acht und zwölf Stunden, das Publikum verbringt die Nacht am Konzertort und ist dazu eingeladen sich hinzulegen“, heißt es auf seiner Konzept-Website. Es gehe um „einen anderen und tieferen Zugang zu Musik“, um den „Hypnagogischen Zustand: Das Zwischenstadium von Wachsein und Schlaf“, um „wiederholtes Ab- und Auftauchen aus unseren Träumen.“ 

Schlafkonzert „Lucidity Music“ in Bochum: Das absolute Anti-Event

„Oh Gott“, dachte ich mir. „Wie soll ich denn meinen ADHS geplagten Leib zwölf Stunden ruhig halten, während da einer an seinen Synthesizern rumschraubt, geschweige denn einschlafen?“ Denn obwohl ich ein passionierter Ausschläfer bin, ist das Einschlafen mein großer Feind.  Für mich müssen alle äußeren Bedingungen stimmen: der Raum muss maximal abgedunkelt sein und das einzige Geräusch, das an meine Ohren dringen darf, ist die ruhige Stimme des aktuellen Hörbuchvorlesers aus meinen Handylautsprechern. Ihr seht schon, es ist alles nicht so einfach.

Insgesamt also ein Konzert, das nicht weiter von meinen Partypräferenzen entfernt sein könnte und Schlaf in einer Umgebung, die ich nach meinen Schlafstandards als maximal schlaffeindlich einordnen würde. Kurzum: das absolute Anti-Torben Event. Aber egal. Also hieß es dann am Samstag: Isomatten unter die Arme, Ikea Plüsch-Schweinekissen eingepackt und ab in die S-Bahn nach Bochum.  

Einmal an der Location angekommen, durchschreiten meine Freundin und ich gegen halb elf, eine halbe Stunde vor Einlassstop (man will ja die Ruhe und den Schlaf der Anwesenden nicht stören), die schwere Metalltür zur Quartiershalle und werden freundlich von einem jungen Mann in grauem Leinenshirt und beiger Leinenhose begrüßt. „Hey, schön dass ihr da seid. Sucht euch doch einfach einen freien Platz, legt eure Matten da hin und macht’s euch gemütlich“, flüstert Heinrich Lenz uns zu.

„Lucidity Music“: Hippie-eske Kleidung und begabte Schnarcher

Gemeinsam mit einer jungen Frau in ähnlich hippie-esker Kleidung steht er an einem – im Gegensatz zum restlichen Raum – grell-weiß angeleuchteten Tisch. Als unser Blick auf der Suche nach einem geeigneten Schlafplatz durch die größtenteils mit roten und blauen Bühnenscheinwerfern beleuchtete Industriehalle streift, sehen wir 15, vielleicht 20 Gäste, die schon in den verschiedensten Arten der Bedeckung im Raum verteilt sind. Wir entscheiden uns für einen schönen Fleck neben einem der Stahlträger. Nicht zu weit vom Eingang – man bedenke die Notwendigkeit zwischendurch rauchen zu gehen – nicht zu weit vom DJ Pult – eine Konstruktion aus zwei Tischen, mehreren DJ-Geräten und einer stoffbehangenen Nachttischlampe – und nicht zu weit von der Treppe hoch zur Tee-Bar und der dahinterliegenden Toilette.

Während der erste Act die Halle schon mit ätherischen Synthie-Klängen füllt, schlagen wir unser Nachtlager auf und verfallen schon ein wenig der schummrig-wohligen Atmosphäre. Entgegen meiner Erwartung sind nicht alle Gäste mega Hippies. So ist unser direkter Liegenachbar in Carhartt Pullover, Jeans-Hose, Basecap und Adidas Sneaker gekleidet. Er wird sich im Verlaufe der Nacht noch als wirklich begabter Schnarcher herausstellen. Der Fotograf sieht jedoch aus als hätte man ihn gerade von einer Hängematte gepflückt. Es dauert insgesamt noch etwa ein Stündchen bis sich wirklich allgemeine Ruhe durchgesetzt hat. Aber auch in der vergleichsweise unruhigen Anfangszeit wirkt die allgemeine Stimmung schon auf mich ein.

Tee-Bar beim Schlafkonzert: Mittel für luzide Träume

Unterhaltungen sind nur ein zischendes Flüstern, das sich behutsam über die andersweltlichen Klänge aus den Boxen legt und jedem Gespräch einen Hauch von Intimität verpasst. Während meine Freundin – wie üblich – nach kürzester Zeit schon dem Schlaf nahe ist, ist mein Inneres noch ziemlich aufgewühlt. Was passiert, wenn ich gleich einfach einschlafe und erst morgen um acht wieder aufwache, worüber soll ich dann schreiben? Was soll ich generell schreiben? Ich komme mir ein bisschen dämlich vor und verbringe die Zeit damit, mir schon einmal ein paar Formulierungen und Sätze für diesen Text bereit zu legen. „Respekt und Ehrfurcht vor der Stille der Anderen“, cool, das bau ich ein! Als ich merke, dass das so nichts wird mit dem Einschlafen, entscheide ich mich dazu, noch einmal eine rauchen zu gehen und dann mal die Tee-Bar abzuchecken. Vielleicht gibt es da ja etwas, das mich ausknockt.

Vor der Tür bietet sich mir ein krasser Gegensatz, ein Einblick in das normale Nachtleben aus einer mir bisher unbekannten Perspektive. Die psychedelische Klangkulisse der „Lucidity Music“ wird verdrängt vom klassischen Samstagnacht-Stadtlärm. An die Stelle der Synthesizer treten jetzt der Wind in den Bäumen und die Autos, die durchs nächtliche Bochum fahren, die Stimmen einer Gruppe Menschen, die in der Grünanlage neben der Quartiershalle trinkt ersetzen die Soundeffekte, die gerade noch die musikalische Ruhe garnierten. Ein paar feierwütige Jugendliche ziehen Richtung Innenstadt an mir vorbei, als ich meine Zigarette austrete und wieder zurückgehe; raus aus dem rauen Draußen und rein in unsere Parallelwelt.

Zugegeben, dieser nikotinsuchtgetriebene Kurztrip in die Realität war meiner inneren Ruhe nicht unbedingt zuträglich, also bleibe ich bei meinem Plan und schleiche – in Respekt und Ehrfurcht vor der Stille der Anderen – die Stahltreppe hoch zur Tee-Bar. Hier werde ich wieder von Lenz begrüßt, der mir neben dem normalen Getränkeangebot – Wasser, Bier, Limo – auch die Teekarte vorstellt. „Also das hier ist Calea Zacatechichi, Traumkraut. Das ist der stärkste Beruhigungstee den wir haben, kann luzide Träume hervorrufen. Und dann haben wir noch…“, erklärt er weiter, aber das wäre gar nicht nötig gewesen, ich weiß schon was ich will. In klassischer Exzess-Manier entscheide ich mich natürlich für die stärkste Möglichkeit. Als ich meine Bestellung abgebe, quittiert Lenz sie nur mit einem „Okay, mutig!“ Während er mir den Tee zubereitet ( „Der muss jetzt noch zehn Minuten ziehen, aber pass auf, der ist echt bitter.“, „Alles klar, Chef!“) – schaue ich mich auf der Tee-Bar-Empore ein wenig um. Zur einen Seite ein Durchgang zu einem Büchercafé und zur anderen Seite eine Art Konferenzraum, vor dem eine junge Frau sitzt und auf ihrem Tablet zeichnet. Nach ein paar Minuten schaffe ich es meinen Blick loszureißen, nehme mir meinen Tee und gehe wieder runter.

Im Schlaf: Zu Besuch bei „Lucidity Music“

Wieder eingekuschelt, nehme ich einen Schluck des Gebräus und ja, Lenz, der inzwischen den Platz am DJ-Pult eingenommen hat, hatte Recht. Der Tee schmeckt absolut grausig: bitter und krautig. Als sich mein Blick in den Löchern des Aliminium Kabelkanals verliert, der über mir läuft, beginnt Lenz den akustischen Raum mit Klängen zu füllen, die mich geistig in ein tiefes Höhlensystem schicken. Ich merke wie mein Körper wärmer und meine Augen schwerer werden, bevor meine Augen sich zum ersten Mal so richtig schließen. Das nächste Mal als ich sie aufmache, sind alle Lichter im Raum aus. Ich blicke mit verklebten Lidern um mich und sehe, was mich geweckt hat: ein paar neue Menschen, zwei weitere DJs, sind zu uns Schlafenden dazugekommen und unterhalten sich im Flüsterton mit dem Veranstalter. Ich blicke auf mein Handy neben mir und sehe, dass etwas mehr als zwei Stunden vergangen sind: es ist kurz vor zwei.

Inzwischen hat sich vielerorts auch ein Schnarchen unter die Musik gemischt, aber es wirkt nicht störend, viel mehr natürlich, als wäre es einfach ein gewollter Bestandteil der Klangkulisse. Nachdem ich mich eine gute halbe Stunde in meinem Schlafsack hin und her gewälzt und so meine Freundin geweckt habe – Sorry dafür – greife ich zu den Schritten, die mich vorhin so verlässlich in Morpheus Arme getrieben haben. Ich schnappe mir also meine Bauchtasche und gehe mir noch einen Tee machen. Lenz hätte dies wahrscheinlich mit „Okay, übermütig!“ kommentiert. 

Die Nacht hat sich verändert in der Zeit, in der ich geschlafen habe. Die Stadt ist leiser geworden, ruhiger. Das grelle Licht der Laternen brennt in meinen verschlafenen Augen, der Straßenlärm erscheint mir als harscher Kontrast zu den weichen Klängen die aus der einen Spalt weit geöffneten Tür hinter mir quellen. Der Trank scheint seine Wirkung zügig zu erfüllen, denn ich kann mich tatsächlich an kein Bild mehr erinnern, bevor ich wieder eingeschlafen bin – diesmal komplett traumlos.

Zwischen dem Traum und dem nächsten Morgen

Es ist halb sechs und die so langsam aufgehende Sonne wirft schon ein erstes, schüchternes Licht in die Werkshalle, als ich das nächste und für diesen Ausflug letzte Mal wieder aufwache. Ein verschämter Blick durch den Raum zeigt mir, dass ich nicht der Einzige bin dem es so geht. Im Publikum lassen sich erste Zeichen eines langsamen Erwachens erkennen: Hier ein Aufsetzen, dort ein Suchen in der Tasche. Beim allmorgendlichen Gang aufs Klo zeigt sich, dass ich auch nicht mehr so jung und flexibel bin, wie zu Beginn meiner Feier- und Festivallaufbahn – und dass auch ein nüchterner Abend dem Körper zusetzen kann. Hunger, der Rücken und generell die Gelenke, überdecken die unverändert entspannende Musik, die uns vor ein paar Stunden noch wohlig zu Bette getragen hat.

Aber jetzt so richtig aufstehen, unter Knistern und Knacken zusammenpacken, damit das Publikum aus der Traumtrance reißen und dann gehen? Das macht man aber auch nicht. Als gewissermaßen Gefangene unseres Gewissens rollen wir uns von links auf rechts und von rechts auf links aber verharren unter unseren Schlafsäcken. Inzwischen hat sich auch Heinrich Lenz neben dem DJ Pult gebettet und holt sich seine verdiente Portion Schlaf. Erst als die Realität gegen halb sieben ungeschönt und ungebremst in Form einer ungefähr ein Meter dreißig großen, 60 Jahre alten Putzfrau (einem richtigen Ruhrpott Original), mit den Worten „So! Ich muss hier mal rein!“ in unsere Wohlfühlblase reingeplatzt kommt, um frisches Toilettenpapier zu bringen, heißt es allgemein: Aus der Traum! Und diesen Impuls nutzen meine Freundin und ich, um uns klammheimlich davon zu schleichen.

Einmal am Bochumer Hauptbahnhof angekommen, trifft uns allerdings der wahre Realitätsschock. Während eine Gruppe aus zwei Techno-Boys und zwei Techno-Girls in klassischer Szenemontur – größtenteils schwarz oder in Camouflage gekleidet – zu unserer Rechten schlechten Hardstyle aus noch schlechteren Handylautsprechern hört und darüber redet, dass die Techno-Szene hier verweichlicht sei, nutzen die beiden Jungs zu unserer Linken die Wartezeit auf die S-Bahn um noch schnell auf dem Gleis eine Nase zu ziehen. Diese zugegebenermaßen ziemlich trostlose Kulisse zu sehen, ist für uns die Bestätigung, dass wir mit der Entscheidung nicht auf eine Technoparty zu gehen, sondern auf das Schlafkonzert, alles richtig gemacht haben.

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Dieser Artikel wurde gefördert durch den Regionalverband Ruhr.

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