Mehr als Cranger Kirmes: Ein Tag in Herne

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Was passiert kulturell in den Orten abseits von Bochum, Essen und Dortmund? Dieser Frage gehen wir auf den Grund und verbringen jeweils einen Tag in acht Kleinstädten des Ruhrgebiets. STROBO-Redakteur John war in Herne und hat versucht, den Reiz der Stadt fern ab der Kirmes zu finden.

Die Stadt Herne besitzt einige Besonderheiten: Sie ist flächenmäßig die zweitkleinste Großstadt Deutschlands und hat, nach München, Berlin und Stuttgart, die viertgrößte Bevölkerungsdichte des Landes. Hier treffen die A42 und die A43 im Autobahnkreuz Herne aufeinander, hier liegt der geographische Mittelpunkt des Ruhrgebiets. Hier war früher Zeche, hier ist seit einigen Jahrzehnten Strukturwandel angesagt. Zwischen Bochum, Recklinghausen und Gelsenkirchen eingeklemmt, besitzt Herne auf dem Papier allerdings erst einmal wenige richtige Alleinstellungsmerkmale (außer den Lieblingsdöner von Dönerkunde). Allerdings kann der 1975 eingegliederte Stadtteil Wanne-Eickel mit der Cranger Kirmes aufwarten, welche deutschlandweit bekannt ist und auch international bekannt und beliebt ist. Aber eine Kirmes macht noch keine Stadt und daher frage ich mich:

Was macht den Reiz von Herne aus?

Mit der U35 fahre ich entspannt aus Bochum nach Herne, nach einer kurzen Fahrt stehe ich direkt in Herne und treffe den Fotografen Lennart, mit dem ich den Tag verbringen werde. Auf der Bahnhofsstraße, Hernes langer Einkaufsstraße, spricht uns direkt eine junge Frau an. „Habt ihr Interesse?“ fragt sie und drückt mir einen Zettel in die Hand. „Meinen Frieden gebe ich euch. Jesus in Johannes 14,27“ steht da drauf. Weiter oben stehen weitere Herner Christinnen und Christen unter einem Zelt und sprechen fleißig Passant:innen an. Naja, ich bin jetzt nicht nach Herne gefahren, um Gott zu finden. Deswegen gehen wir weiter und betrachten die Innenstadt Hernes.

Die Bahnhofsstraße ist voll mit Menschen, die Restaurants und Läden sind typisch für deutsche Großstädte; ein dm, eine Mayersche-Filiale, insgesamt drei Backwerke, Stadt-Parfümerie Pieper und natürlich ein Café Extrablatt in bester Lage. So weit, so langweilig. Dass Pieper aus Herne kommt und insgesamt drei Filialen auf der Straße sind, ändert daran auch nicht viel. Wir laufen runter zu den Flottmann-Hallen und hoffen auf dem Weg etwas mehr Herne und etwas weniger typische Einkaufsmeile zu sehen.

Der lange Weg führt uns vorbei am Archäologischen Museum, wo immer mal wieder interessante Ausstellungen, etwa zum Thema Pest oder Stonehenge, sind. Klingt cool, sieht modern aus. Sonst gibt es aber außer Wohnhäusern nicht viel zu sehen. An den Flottmann-Hallen treffen wir Benny, Wahlherner und ehemaliger Kommilitone von mir. Er wohnt seit neun Jahren in Herne und ist hier ziemlich zufrieden. „Als ich hier hingezogen bin, war ich positiv überrascht.“

Die Gründe für den Umzug nach Herne waren erst einmal einfacher Natur, die günstigen Mieten und die gute Anbindung nach Bochum waren ausschlaggebend. „Hier gibt es günstige Genossenschaftswohnungen und mit der U35 kommste immer nach Bochum, das ist schon echt gut“, sagt Benny, während wir an den Flottmann-Hallen stehen. Die Hallen sind leider noch geschlossen, aber hier ist in den nächsten Wochen viel los:  Fast täglich erwarten Besucher:innen Schauspiel, Poetry Slam, Kabarett, Comedy und Co. aufgrund einer Dachsanierung in den nächsten Monaten erst einmal im nebenan aufgebauten „Kulturzelt“. Ich bin erstaunt, dass ich  in Bochum so wenig davon mitbekomme. „Du guckst hier in Herne immer nach Bochum, aber selten von Bochum nach Herne“, sagt Benny dazu und ergänzt: „Wir fahren immer nach Bochum, wenn wir was machen wollen.“

Wanne-Eickel: Eigenständige Stadt oder Stadtteil?

Als nächstes fahren wir zu dritt nach Wanne-Eickel, den 1975 eingegliederten Stadtteil Hernes. Wir gehen die Hauptstraße entlang, hier gibt es aber, wie auf der Herner Bahnhofsstraße, nicht viel Interessantes: Backwerk, Tedi, einen o2-Shop… Nur das Eiscafé Cortina und die Metzgerei Alican geben mir ein Gefühl einer nicht-generischen Einkaufsstraße. Aber auch hier sind viele Menschen auf der Straße, offensichtlich sind die langweiligen Läden auch gleichzeitig die, die sich halten konnten oder andere verdrängt haben. Trotzdem habe ich den Eindruck in einer komplett anderen Stadt als Herne zu sein, auch die Autokennzeichen mit „WAN“ lassen hier wenig von Herne erkennen. Dass nicht alle hier zu Herne gehören wollen, ist hier auch im Stadtbild zu erkennen.

Für Benny ist Wanne-Eickel größtenteils unbekannt: „Bis auf die Cranger Kirmes kenne ich nichts von Wanne-Eickel. In Herne wird auch klar zwischen Herne und Wanne-Eickel unterschieden und man fährt selten rüber.“ Offensichtlich leidet Wanne-Eickel auch stark darunter, zwischen Bochum, Gelsenkirchen und eben Herne eingeklemmt zu sein. „Wanne-Eickel ist Vorort zu vielen anderen Städten“, kommentiert Benny das. Der angrenzende Stadtpark ist ein typischer Park, auch hier verirrt sich ein Gittertier in den Teich und es liegen Kippenstummel an den Bänken. Der Mondpalast, „Volkstheater des Ruhrgebiets“, steht direkt nebenan und wir gucken auf’s Programm: Ronaldo & Julia, Dinner for Wan(ne) und Othello, der Schwatte von Datteln… Sieht alles sehr Ruhrgebietskultig aus. Sonst hat Wanne-Eickel auf den ersten Blick nicht viel zu bieten und die Cranger Kirmes fängt ja auch erst im August wieder an. Ich find’s hier trotzdem ganz nett, es muss ja nicht jede Stadt an jeder Ecke etwas Besonderes haben.

Ich frage Benny, ob er wen aus Wanne-Eickel kennt. Er überlegt etwas und sagt dann: „Ne, ich kenne hier niemanden. Aber du kannst doch mal den Bela fragen, der hat bestimmt einiges zu erzählen.“

Bela ist Vertragsamateur Belamigović und hat es auf Twitter und Instagram innerhalb der Fußball-Bubble zu einiger Bekanntschaft gebracht, indem er seit Jahren unter #BelaLiga Ausschnitte aus alten Bundesligazusammenfassung postet (auf Instagram ist mittlerweile leider alles gelöscht). Bela wurde in Herne geboren, ist in Bickern aufgewachsen und lebt gerade in Eickel, kennt sich hier also gut aus.

Stark interessiert mich seine Sicht auf die Eingliederung Wanne-Eickels in Herne, wozu er antwortet: „Also die Eingliederung fand ja schon vor meiner Geburt statt, aber es gibt hier aber schon noch viele Leute, die darauf bestehen, dass Wanne-Eickel nicht Herne ist. Ähnlich wie in Gelsenkirchen mit Buer oder Bochum und Wattenscheid. Finde diese Art von Lokalpatriotismus teilweise ganz charmant, so lange man es selbst nicht zu ernst nimmt. Wenn ich nach meinem Heimatort gefragt werde nenne ich auch Wanne-Eickel.“ Er sei aber nicht beleidigt, wenn er mal als Herner bezeichnet wird, ist aber in seiner Freizeit eher selten da. „Vielleicht mal im Gysenberg,“ dem Herner Revierpark mit Eissporthalle und Tierpark.

Auch zur Cranger Kirmes hat Bela einen persönlichen Bezug: „Crange war für mich als Kind neben Weihnachten das Highlight des Jahres. Bin jedes Jahr mit meinem Oppa auf dem Rad zum Kirmesplatz und hab in den Tagen vor der Eröffnung beim Aufbau zugeschaut und mich vor allem auf den King Kong vor der Geisterbahn gefreut (auch wenn ich als ganz kleiner Racker vor Angst geweint habe).“ Als Jugendlicher war Bela lange nicht auf der Kirmes, ist mittlerweile aber wieder ein paar Mal da.

Ich frage Bela nach einem Ort oder einer Kneipe, wo man gut Zeit verbringen kann: „Lieblingsort ist sicher der Kanal, egal ob spazieren, joggen oder mit ‘nem Bier am Wasser sitzend. Eine klassische Lieblingskneipe habe ich nicht, da ich mich wegen meinem Verein (Schalke) dann eher in Gelsenkirchen rumtreibe, aber es freut mich, dass der Steinmeister den Biergarten an der Künstlerzeche vor zwei Jahren übernommen hat. Guter Laden.“

Die Verbindungen nach Gelsenkirchen und Bochum nutzt Bela auch bewusst: „Meine Wochenenden gehören meist dem Fußball und da bin ich in der Regel entweder mit Schalke unterwegs oder in Gelsenkirchen.“ Wenn er aber nicht in Wanne-Eickel oder Gelsenkirchen ist, verbringt er Zeit in Bochum.

Laron Janus und das queere Leben in Herne

Bei meiner weiteren Reise durch Herne treffe ich auf Laron Janus, 29 Jahre alt und, als Sprecher des queeren Arbeitskreises der Jugendförderung der Stadt Herne sowie Gründer des queeren Jugendforums und des CSD Herne, der Ansprechpartner Nummer Eins für queere Menschen in Herne und Wanne-Eickel. Laron ist seit 2019 in Herne politisch aktiv, seit er das queere Jugendforum im Jugendzentrum Pluto in Wanne-Eickel gegründet hat. „Damals gab es niemanden in Herne, der sich auch nur ansatzweise mit queeren Themen auseinandergesetzt hat“, sagt Laron und er hatte Angst, dass es so bleiben könnte: Als er einen Schreibworkshop mit Poetry Slammerin Jule Weber organisierte, kam nur eine Person und auch die wöchentlichen Treffen sprachen erst einmal niemanden an: „Ich saß einige Tage komplett alleine im Pluto, weil niemand kam.“

Obwohl er im Dezember 2019 mit einem Drag-Workshop viele Menschen begeistern konnte und die Treffen des queeren Jugendforums in den Folgemonaten öfter besucht wurden, machten die Lockdowns 2020 und 2021 auch hier die mühsame Arbeit direkt wieder kaputt. In beiden Jahren wurde zwar der CSD in Herne veranstaltet – aufgrund der Einschränkungen leider nur digital und mit dementsprechend wenig Erfolg.

Der CSD 2022 wird erstmals ganz normal stattfinden können und queeres Leben in Herne positiv sichtbar machen können. Unterstützung für den CSD hat die Crew um Laron aus Bochum bekommen: „Man kennt die Leute und in Bochum sind die Strukturen viel fester und vor allem professionalisierter.“ In Bochum lebt und studiert Laron, er pendelt von dort aus immer nach Herne und Wanne-Eickel. Was für ihn auch ein Glücksfall ist, denn „die Querverbindungen zwischen Herne und Wanne-Eickel sind sehr schlecht.“ Dementsprechend schlecht sieht auch er die Vernetzung zwischen beiden Stadtteilen.

Zu der Wahrnehmung seiner Arbeit in Herne sagt Laron: „Die Leute sind grundsätzlich erstmal offen, aber machen viele Sachen nicht freiwillig.“ Daher wünscht er sich mehr Einsatz für queeres Leben in Herne und Wanne-Eickel. Vor allem da Herne deutschlandweit für eine transphobe Attacke im Fokus stand, bei der die damals 15-jährige Jess von drei Jungen ins Koma geprügelt wurde – weil sie offen trans* lebt.

Die Frage, ob Herne auch für queere Personen lebenswert ist, drängt sich also stark auf und mehr Einsatz für queere Menschen hat hier besondere Dringlichkeit. Der Angriff auf Jess hat Laron zwar in der Brutalität überrascht, aber für ihn ist klar, dass „hier noch einiges für die Akzeptanz für queeres Leben in Herne getan werden muss.“

Eine weitere, allgemeinere Forderung hat Laron an das allgemeine Stadtbild Hernes: Es fehlt ihm an Orten wie Kneipen oder Bars für junge Leute. „Du brauchst Begegnungsstätten für kulturell interessierte Menschen, Orte, wo politisch interessierte Menschen abends mal n Bierchen trinken können.“ Es gibt zwar einige Jugendzentren in der Stadt, diese richten sich jedoch hauptsächlich an Jugendliche und haben (logischer- und richtigerweise) ein striktes Alkoholverbot. Ich stimme da Laron zu, denn eine nette, eher an jungen Leuten orientierte Kneipe hätte ich mir für unser Gespräch auch gut vorstellen können. 

Foto: Lennart Neuhaus.

Am Ende des Tages ist mein Eindruck positiv. Ich bin überrascht wie viel in Herne und Wanne-Eickel steckt und werde garantiert öfter wieder hierhinkommen, vor allem dank der einfachen Fahrt mit der U35. Ich verstehe auch, warum man hier gerne wohnt, sofern man schnell in andere Städte kommen kann und es etwas ruhiger angehen will. Nur das queere Leben in Herne hatte ich mir größer vorgestellt – aber dass sich das in den nächsten Jahren ändert, glaube ich auch.

Wenn ihr in nächster Zeit auch gerne einen Tag in Herne verbringen wollt: Der CSD Herne beginnt am 18.06. um 12 Uhr auf dem Europaplatz.

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