STROBO:Stimmen „Echo“ von Angelina Jungmann

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Bei den STROBO:Stimmen vom literaturgebiet.ruhr und STROBO schreiben junge Schriftsteller:innen aus dem Ruhrgebiet über ihre Perspektiven zum Leben. Die Autorin Angelina Jungmann hat im September für uns die Frage beantwortet: Was beschäftigt dich?

Er betrachtete sie schon eine Weile, sah dabei zu, wie sie sich die Brombeeren in den Mund schob, ohne von ihrem Buch aufzusehen, sich gelegentlich ihr Haar aus dem Gesicht strich und ihre Jacke über der Rückenlehne hängen ließ, obwohl sie bei jedem Windstoß fröstelte. Sie spürte seinen Blick wie einen schweren Schleier auf sich liegen, gab sich Mühe, nicht aufzusehen. Sie wusste, wenn sich ihre Blicke begegneten, würde es kein Zurück mehr geben in die Welt, in der jeder auf seine eigene Weise existierte, ohne das Dasein des anderen zu berühren.
     Gestern erst war sie zum ersten Mal seit sechzehn Monaten den Weg abgelaufen, auf dem sie jenes Gespräch geführt hatten, von dem sie erst hinterher wusste, dass es ihr letztes sein würde. Sie hatte sich davor gefürchtet und war den Weg entgegengesetzt entlangspaziert, vom Ende bis zum Anfang. An dieser Weggabelung hat er begonnen, mich anzuschweigen. Vor diesen Himbeersträuchern zum letzten Mal meine Hand losgelassen. Auf dieser Bank sitzend gestanden, dass er sich nicht sicher sei, ob er mich jemals geliebt habe. Als die anfängliche Angst verflogen war, war ihre Sorge Erstaunen gewichen. Trotz all der Momente, die sich wie Feuermale unter ihre Haut gebrannt hatten, konnte es sich wieder einfach nur wie ein Weg anfühlen; ein schlichter Spazierpfand an Maisfeldern und Hecken entlang, beschienen von der tiefstehenden Augustsonne.

Er war sich nicht sicher, ob sie seinem Blick auswich oder nicht. Insgeheim hoffte er, dass sie ihn zumindest bemerkt hatte. Mit unruhigen Fingern pulte er das Etikett von der Flasche und ließ die kleinen Fetzen zu Boden rieseln. Inzwischen lauerten ein paar Tauben zu seinen Füßen in der Hoffnung, es möge sich bei den weißen Flocken um etwas Essbares handeln, doch es kümmere ihn nicht. Er versuchte gar nicht mehr, sich von ihrem Anblick loszureißen. Zu sehr war er gefangen in den langen, blonden Haaren, den rosigen Wangen und dem zarten Kinn, als wären ihre Züge ein Käfig, aus dem es kein Entkommen mehr geben würde. Ihr Anblick glich einem Säuseln aus der Vergangenheit, das auch nach all der Zeit noch immer schmerzvoll an ihm festhielt.
     Gestern erst hatte er zwischen zwei Schuhkartons ein altes Foto gefunden, auf dem sie mit dem Rücken zur Kamera stand und den Kopf zur Seite drehte. Links von ihr seicht ansteigende Dünen, rechts von ihr das Meer. Ihre langen Strähnen klebten an ihrem nackten Rücken, ihre Waden und Unterarme waren voller Sand, das schmale Profil ihres Gesichts wirkte ernst, ihr Blick in der Ferne verloren. Er hatte in der Bewegung innegehalten, um sie zu betrachten. Ihr erster Urlaub am Strand. Ob sie damals noch glücklich gewesen war? Mit dem Zeigefinger strich er über ihr verblasstes Haar, über die Schulter, den Rücken hinab bis zu der Stelle, an der die Taille in das Becken überging. Vier Jahre. Vier Jahre, versteckt in Hirnhinterhöfen und alten Bildern zwischen Schuhkartons, staubig und bleich. Zwei Leben, unzählige Was-hätte-sein-könnens, sein Leichtsinn, ihr Schmerz.

Obwohl sie noch immer mit dem Buch in der Hand dasaß, verschwamm bereits seit einiger Zeit ihr Blick. Die feinen Buchstaben vor ihr wurden weich und konturlos, zeichneten wilde Schemen auf den weißen Untergrund. Sich umklammerte den Einband, als würde sie sich daran festhalten, während sie von Vergangenheitswogen erfasst und in die Erinnerung gespült wurde – ein Strudel, der sie innerlich durchschüttelte und dafür sorgte, dass er wieder zum Vorschein kam: Der Schmerz eines Herzens, das mit so einer Wucht zerbrach, dass es gleich ihre ganze Welt auseinanderriss. Diese lähmende Fassungslosigkeit, die schlaflosen Nächte, das Aufwachen, ohne zu wissen, wofür. Sie machte den Rücken krumm, spannte die Waden an, rollte die Zehen ein und presste die Lider zusammen. Ihr Herz wollte sich am liebsten aus ihrem Brustkorb schälen, davonlaufen, ihre bewegungslosen Glieder und alles andere hinter sich lassen – wie ein Heißluftballon, der schweres Gepäck abwarf, um nicht an der nahenden Felswand zu zerschellen.

Er sah, wie sie die Augen schloss und den Kopf sinken ließ. Fast schon sinnlich wirkte sie, wie sie dort mit dem Buch in der Hand im späten Tageslicht saß. Wie gern würde er sich ein Herz fassen, zu ihr gehen und ihr sagen, dass er einen Fehler begangen hatte. Nicht etwa mit der Trennung, die er keine Sekunde lang bereut hatte, nein, sondern vielmehr all die Jahre davor, in denen er sich davon hatte tragen lassen, dass sie mit aller Kraft an seiner vermeintlichen Liebe festhielt. Er würde ihr sagen, dass er nachts wach lag, in den dunklen Himmel starrte und mit jedem schlaftrunkenen Blinzeln etwas deutlicher begriff, was er getan hatte. Er würde ihr sagen, dass er sich schämte für seinen blinden Egoismus und das Lügengestrick, in dem er sie gefangen hatte, für seine entwaffnende Gleichgültigkeit und die Tatsache, dass er vier lange Jahre ihres kostbaren Lebens verschwendet hatte, ohne zu begreifen, was genau er dort eigentlich tat. Und sie würde ihm zuhören, mit zusammengepressten Lippen und starrem Blick, und dann, irgendwann, würde sie nicken und lächeln und er würde in ihren Augen sehen, dass sie ihm vergeben hatte. Und wenn er sich dann von ihr abkehrte und zurück zu seinem Platz ging, würde er zehn Kilo leichter sein und mit Schwung seine Limo austrinken, bevor er in ein von nun an beflügeltes Leben ging.

In ihr drehte sich alles. Ein Sog aus Empfindungen, Gedanken, Hoffnungen und alter Wut zog immer enger werdende Kreise und stieg ihr bis zum Hals hinauf, so weit, dass sie befürchtete, sich gleich in die Schale mit Brombeeren zu übergeben. Sie versuchte, zu atmen, aber es gelang ihr nicht. Sie steckte in dem kleinen Spalt zwischen Ein- und Ausatmung fest, ihr wurde schwindelig, sie ließ das Buch in ihren Schoß fallen und klammerte sich an den Lehnen fest. Brauchte halt. Tränen stiegen ihr hoch bis zu den Lidrändern – doch sie hielt sie zurück. Sie würde nicht weinen. Nicht hier, nicht jetzt, vor allem nicht vor ihm. Nie wieder würde sie sich die Blöße und ihm die Genugtuung geben. Sie schnaubte. Wie oft sie schon vor ihm gesessen hatte, verzweifelt und tränennass, während sie in seinem kalten, distanzierten Blick etwas suchte, immer wieder suchte und suchte und hoffte, es vielleicht irgendwann dort finden zu können, bis er ihr offenbarte, dass es keine echte Nähe, keine Liebe geben würde. Weil sie nicht da war. Weil nichts davon je da gewesen war. Nicht echt war. Nicht echt war.

Er musste mit ihr reden, jetzt, das wusste er. Wenn er sich heute kein Herz fasste, würde er es vielleicht nie tun. Die plötzliche Vorstellung, in wenigen Sekunden vor ihr zu stehen und ins Gesicht zu sehen, während er seine Fehler gestand, überrumpelte ihn. Sein Herz wummerte in seinem Brustkorb. Da-damm. Er atmete tief ein, hielt die Luft an, ließ sie langsam durch seine Lippen entweichen. Da-damm. Er stellte die Flasche ab, fuhr mit dem Finger über das raue Holz des Tisches. Da-damm. Ein Kribbeln breitete sich in seinen Armen und Beinen aus. Da-damm. Er würde es tun. Jetzt. Aufstehen und zu ihr gehen. Da-damm. Vier Schritte, maximal. Da-damm. Er würde mutig sein. Mutig und ehrlich. Dieses eine Mal. Das war er ihr schuldig. Da-damm. Er setzte sich auf und griff an die Stuhllehnen. Da-damm. Er holte Luft und erhob sich. Da-damm. Da-damm. Da-damm.

Ihre linke Wade krampfte. Der Schmerz zuckte scharf ihr Bein hinauf und holte sie wieder zurück auf den Stuhl, in das Sonnenlicht, ins Jetzt. Die Spannung in ihren Gliedern hatte sich verselbstständigt. Sie versuchte, ihre Finger zu bewegen, ballte sie zu Fäusten und streckte sie wieder aus, ein Wechselspiel aus Festhalten und Loslassen. Es ist vorbei. Sie unterdrückte einen Schluchzer, während sie ihre Arme bewegte und langsam begann, ihre Zehen aus der Verkrampfung zu lösen. Es ist vorbei. Nach einer Weile konnte sie ihre Fersen wieder auf dem Boden absetzen. Stück für Stück wurden ihre Waden weicher. Es ist vorbei. Ihr verzweifelten Worte, die an seiner Ignoranz abprallten, die Ohnmacht, die sie in ihre Kindheit zurückkatapultierte, die Nächte, in denen sie dalag und sich dafür rügte, seine Gleichgültigkeit nicht hinnehmen zu können. Es war vorbei. Es ist vorbei. Sie musste nie wieder zurück in dieses Fünftel ihres Lebens. Sie war frei. Es ist vorbei. Wirbel für Wirbel richtete sie sich auf, machte sich groß. Es ist vorbei. Sie war nicht mehr die, die sie vor sechzehn Monaten gewesen war. Sie war gewachsen. Gereift. Weitergezogen. Es ist vorbei. Der Käfig ihrer unerwiderten Liebe war aufgebrochen, sie war keine Gefangene mehr. Sie ließ zu, dass ihre Gesichtszüge sich entspannten, konnte spüren, wie sich die Fältchen um ihre Lider wieder glätteten und ihre Wimpernkränze sanft aufeinander ruhten. Es ist vorbei. Sie stellte sich vor, wie sie sich vor die verzweifelte Version ihrer selbst setzte und sie in den Arm nahm. Sie wusste, dass sie es schaffen würde. Ganz gleich, was es war. Es ist vorbei. Sie sog die Luft tief durch die Nase ein. Schluckte. Ließ die Hände in den Schoß sinken – und öffnete die Augen.

Über die Autorin Angelina Jungmann:

Angelina Jungmann ist 2001 geboren und im Ruhrgebiet aufgewachsen. Seit ihrer Kindheit schreibt sie literarische Texte, in denen sie die Leser*innen in Gefühlswelten und die Köpfe ihrer Figuren eintauchen lässt. Seit ein paar Jahren widmet sie sich vor allem der Lyrik, schreibt hin und wieder Kurzgeschichten und arbeitet momentan an ihrem ersten Roman. Angelina Jungmann studiert Kulturwissenschaften und engagiert sich im kürzlich gegründeten LiteraturKollektiv Bochum.

Mehr Infos findet ihr unter www.angelinajungmann.de

Das Key-Visual von STROBO:Stimmen stammt von Britta Wagner.

STROBO:Stimmen ist ein Gemeinschaftsprojekt von STROBO und literaturgebiet.ruhr.

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