Null:ae ist als freischaffender Künstler in Essen unterwegs. Er gibt Workshops, hostet Ausstellungen und überlegt immer wieder, welche Kreativangebote er in Essen noch anbieten könnte. STROBO hat den Künstler auf mehrere Kaffees und ein Gespräch getroffen und dabei mehr über seine Leidenschaft erfahren.
Eigentlich wäre heute Null:aes Atelier-Tag. An seinem orangenen Pulli kleben noch getrocknete Farbstreifen von der letzten Session. Wenn Null:ae malt, dann ist der Pullover das Abwischtuch. Mittlerweile ist er sich sicher, dass er heute nicht mehr zum Malen an das andere Ende von Essen kommen wird – die Bahnen fallen aus, der Schienenersatzverkehr bräuchte deutlich zu lange. Aber ob’s nur an den Bahnen liegt? „Ich habe 1000 Baustellen und 1000 Interessen – und ich bin nicht besonders diszipliniert da drin, was Struktur angeht“, gibt Null:ae zu.
Null:ae und seine Künstleridentität
Null:ae heißt eigentlich Jan, kommt ursprünglich aus Oberhausen und zieht vor fast sieben Jahren nach Essen. „Keine Weltreise“, wie er selbst sagt, aber doch Veränderung. In Essen findet er Anschluss an die Kunstszene. Die ist nicht unbedingt riesig. Unter Null:ae will er mit Rap anfangen, trotz null Erfahrung. Alle Rapper:innen hätten zu der Zeit irgendwelche lustigen Satzzeichen im Namen gehabt für ein bisschen mehr Edge.
Wenn man auf seinem Instagram Profil schaut, erkennt man ihn nicht als Rapper. Eigentlich taucht auch er als Person kaum auf. Umso präsenter sind die Charaktere in seinen Kunstwerken: In Knallpink, sattem Grün und leuchtendem Gelb springen und tanzen sie über die Leinwand. Die Farbe wird in Schach gehalten von den dicken schwarzen Markernstrichen. Das anfängliche Chaos weicht mit jedem klar gesetzten Strich der Ordnung einer Gesamtkomposition.
Kunst für IKEA-Besucher:innen machen
So grotesk wie sich zum Teil Augen aus den Höhlen hervorquellen, Münder sich zu einem fetten Grinsen formen und Arme und Beine in der scheinbar tanzenden Bewegung nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind, so schnell bleibt der Blick daran hängen. Das ist die Art, mit der sich Null:ae am wohlsten fühlt – bewusst unterhaltsam, bewusst dekorativ. Für ihn ist das keine Abwertung.
Wir sitzen im Extrablatt in der Essener Innenstadt. Wenn seine Kunst hier hängen würde, würde Null:ae sich nicht beschweren: „Aus dem ersten Impuls würde ich sagen, wenn man meine Bilder bei Ikea kaufen könnte, wäre das schlecht. Wenn ich da länger drüber nachdenke, wäre es eigentlich nur die konsequente Weiterentwicklung, wo meine Haltung gerade schon ist.“
Sein „Schlüsselerlebnis“ dafür war ein Schulausflug ins Lehmbruck Museum in der Unterstufe. In dem Glaskasten mit den kühlen, steinernen Wänden hing eine große schwarze Farbfläche als Bild ausgestellt. Schon damals ist Null:ae kein Fan von dem, was er da sieht: „Diese Kunst finde ich scheiße, weil sie Menschen abstößt, sie nicht mit reinholt. Das ist mein Problem mit Konzeptkunst. Deswegen arbeite ich so plakativ, so bunt, so zugeneigt.“
Null:ae: „Ich hatte da einfach nichts zu sagen“
Kunst nicht nur zu machen, sondern auch zu studieren, hatte Null:ae nach seinem Schulabschluss kurz im Kopf – die „Eier“ und den Zuspruch seiner Eltern aber nicht. „Es ist ja kein Geheimnis, dass Akademiker:innen eher aus Akademiker:innenfamilien kommen“, wirft er dabei ein. Für Nichtakademiker:innenkinder bedeutet das schon immer Chancenungerechtigkeit im Bildungsweg. Mit Design könne er wenigstens noch Geld verdienen, denkt er. Mit diesem Gefühl startete er mit 19 Jahren in sein Kommunikationsdesign-Studium.
Das Studium bricht er dann ab, zu einem Zeitpunkt der völligen Überforderung und einem Burnout nahe. Heute kann er darüber lachen, dass er damals ein Filmprojekt machen wollte, ohne Ahnung vom Schneiden und Filmen zu haben: „Ich habe mich einfach hart dran überhoben.“ Nach einem Klinikaufenthalt versucht er das Studium nochmal aufzunehmen – exmatrikuliert sich dann aber. „Im Nachhinein betrachtet würde ich sagen, hatte ich da einfach nichts zu sagen. Es gab keinen Inhalt in meinen Arbeiten“, reflektiert Null:ae.
Über das „Scheitern” und neu anfangen
Nach dem Studienabbruch beginnt Null:ae eine Ausbildung zum Erzieher. Er möchte jetzt auf die „sichere Bank“ nach der Phase des Ausprobierens, wie er sagt. Während der Ausbildung merkt er, dass ihm das Gestalten fehlt. Diesem Gefühl zu folgen, fiel ihm weniger leicht: „Du bist gescheitert und das Zweite, das muss jetzt aber sitzen. Und sich dann einzugestehen, dass es das aber auch nicht ist – das ist hart. Das war noch härter als beim ersten Mal.“ Die Angst, mit 25 Jahren doch langsam zu alt für einen Neuanfang zu sein, holt ihn ein.
Völliger Quatsch, wie er heute findet. Er arbeitet heute für eine Werbeagentur, schließt davor eine Ausbildung zum Mediengestalter ab. Hier fühlt er sich zum ersten Mal angekommen. Ihm kommen Ideen, die er im Studium nicht hatte. Heute kann er Hauptthematiken seiner Arbeiten klar benennen: Menschen, die er draußen sieht – flüchtige Alltagseindrücke und zum Teil plakative Rollenbilder. Er möchte möglichst wertfrei bleiben und sich zu keiner politischen Aussage hinreißen lassen: „Meine Art von Kunst erklärt nicht die Welt, sondern stellt halt einfach nur dar – und damit fühle ich mich echt ganz wohl.“
Null:ae will nicht zum Token werden
Die „normalen Menschen“, die Null:ae malt, möchte er auch für seine Ausstellungen ansprechen. Denn was er oft beobachtet: Die typischen Galerie-Gänger:innen laufen mit ihrer Weißweinschorle durch seine Ausstellungen und finden sich mit dem Getränk in der Hand ganz cool. Null:ae will dafür nicht als Token mit seiner Kunst herhalten: „Ich möchte Kunst für den normalen Menschen attraktiv machen, für die alleinerziehende Mutter – warum geht sie nicht auf Ausstellungen? Was fehlt ihr da oder warum bringt ihr das nichts, auf solche Ausstellungen zu gehen?“ Für Null:ae seien Museen wie eine gut beleuchtete und ausgebaute Straße – der Zugang dazu eher ein Trampelpfad durchs Gebüsch.
Null:ae möchte seinen Teil dazu beitragen, dass der Weg durch das metaphorische Gebüsch besser ausgebaut wird. Donnerstage sind bei ihm geblockt für seine Workshops vom Triebfeder Verein. Im Projektraum in Essen Fronhausen sollen Kinder und Jugendliche selbst zum Kunstmachen kommen. Die Arbeit erinnert ihn an seine Erzieher-Ausbildung. Er freut sich auf die Donnerstage. Hier muss er keine Begeisterung aufbauen, die Kinder fangen meist von selbst an. Im Gegensatz zu manch anderen Events, wie einmal an der Folkwang-Uni in Essen: „Das war die anstrengendste Veranstaltung überhaupt. Da waren nur Designer und keiner hat sich getraut, weil alle Schiss hatten, zu verkacken.“
Kindliche Faszination und Naivität bei erwachsenen Gruppen wieder zu erwecken, ist für Null:ae immer wieder eine Herausforderung. An „shitty-paper“-Abenden im Cafe Mundgerecht möchte er noch niedrigschwelliger werden: Bei den nächsten Malen soll Papier und Stift auf den Tischen liegen. Wer möchte, kann sie nutzen. Und wenn es nur Strichmännchen sind, die da an einem Abend entstehen – für Null:ae reicht das. Seine Impulssetzung ist aufgegangen.
Auf der sicheren Seite
Mit den kostenlosen Workshops bezahlt er aber nicht seine Miete. Die Arbeitszeit und das Material würden sich mit dem outcome nicht rechnen. Unter der Woche arbeitet er an drei Tagen in der Werbeagentur. Die Überweisung einmal im Monat bewahre ihn davor, „irgendwann Scheiße machen zu müssen, um seine Miete zu bezahlen.“ Er denkt nach, setzt wieder an, dafür jetzt langsamer. Die finanzielle Sicherheit ist für ihn nicht selbstverständlich. Nach dem abgebrochenen Studium und der nicht beendeten Erzieherausbildung ohne Plan B signalisierte ihm das Arbeitsamt, er sei wertlos. „Auf dem Papier war ich ein alter Abiturient“, erinnert sich Null:ae an das Gefühl von damals Ein Jahr lang begleitete ihn gen Monatsende die Angst: Nicht mehr lange und du wirst unter der Brücke schlafen müssen.
In dieser Zeit beginnt Null:ae wieder mit Therapie und trifft sich in einer Männerrunde, um im Vertrauen über die eigenen Gefühle zu sprechen. Hier erhält er Bestärkung für seinen neuen Plan mit der Ausbildung zum Mediengestalter. Mittlerweile hat er sein perfektes Setup aus Einkommen und freier Kunst geschaffen. Fragt man ihn „Job oder Kunst?“, bekommt man nach allem trotzdem eine ganz klare Antwort: „Da muss ich nicht überlegen. Ich würde den Job hinschmeißen – sofort.“
Immer in Bewegung
Genug Geld zu haben, gibt Null:ae auch die Freiheit, mehr herumzuexperimentieren mit neuen Projektideen. In der Essener Kunstszene findet er dafür viel offenen Raum und hat die Möglichkeit, (neue) Angebote zu schaffen: „Das ist jetzt nicht zwingend so, dass es leere Plakatwände gibt und die Leute auf dich zu kommen und sagen: ‚Mach doch einfach mal!‘ Man muss sich diesen Raum schon nehmen.“
Die Frage, wo zwischen 9 to 5 arbeiten und Workshop-Angeboten, das Abschalten bleibt, stellt sich für den Künstler nicht. Er ist glücklich, dass Kunst im weitesten Sinne für ihn Abschalten bedeutet. Vor Kurzem sei er noch in der Phase gewesen, dass er nach einem langen Arbeitstag noch drei Stunden in ProCreate sketchen wollte. Aktuell sei das nicht der Fall. Zocken würde sonst auch immer gehen. Die Gedanken „Wie ist das Design?“, „Wie ist die Grafik?“, „Wie ist die technische Umsetzung?“ kommen aber auch dabei hoch. „Ich kann mir auch ganz schlecht Filme angucken – das ist mir zu passiv. Da muss immer noch was nebenbei passieren“, sagt Null:ae über die doppelt und dreifach Beschallung seines Alltags.
Kunst als Safe Space
Im Frühjahr hat er sich einen DJ-Controller gekauft. Auf Instagram dokumentiert er in seinen Stories erste Versuche, Tracks ineinander zu mixen. Bei seinen Marker-Jam-Abenden sorgen aber befreundete DJs für die Musik. Es soll eine angenehme Grundstimmung geben. Ein bisschen baut sich Null:ae seine Veranstaltungen auch für sich: „Ich habe mich auf größeren Veranstaltungen immer sehr unwohl gefühlt. Wenn da Mucke gespielt wird und andere wollen tanzen, dann gehe ich an die Wand gehen und male. Das ist dann mein Safe Space.“
Am Anfang sind die meisten eher als Einzelgänger:innen unterwegs: „Das Malen ist an sich eine sehr einsame Tätigkeit.“ Kein Drang also miteinander zu interagieren? Sieht Null:ae nicht so. Er merkt, dass die Leute sich austauschen wollen. Und er freut sich, wenn sie kommen: „Es reicht schon, dass sie von der Couch aufgestanden sind und es hierher geschafft haben. Das ist Wertschätzung für mich als Organisator und Wertschätzung für das Format.“
Wenn man mit Null:ae redet, wirkt es fast so, als ob alles vorherbestimmt war. Es musste einfach so kommen. Er selbst war sich oft unsicher, hatte keinen Plan, wo die Reise als nächstes hingeht. Kreativ zu arbeiten, war aber immer schon ein Teil davon.
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