Zum fünften Mal versorgt das Blaues Rauschen Festival in diesem Jahr das Ruhrgebiet mit elektronischen Sounds, Klangexperimenten und Performances. Ganz schön international und wie gewohnt an Locations, die quer durch den Pott verteilt sind. STROBO hat sich für euch in die Nacht gestürzt, um einen Eindruck von dem Festival zu bekommen.
Auf den ersten Blick wirkt es wie ein ganz normaler Mittwochabend. Abendsonne, leere Bochumer Innenstadt. In einem Café im Erdgeschoss herrscht Feierabendstimmung. Aber ist irgendetwas anders. Ein Haufen junger Leute tummelt sich auf der Treppe nach unten. Aus dem Keller wummert elektronische Musik. Das liegt daran, dass es nicht irgendein Keller in Bochum ist. Es ist der Schlegel Kultur Club. Die wummernden Klänge sind vom Blaues Rauschen Festival, das zur Zeit von einer coolen Location zur nächsten jagt.
Aber okay, fangen wir vorne an. Also, was ist das alles hier?
Synthesizer, Beats und ganz viel Klangkunst
Blaues Rauschen nennt sich dieses Festival. Es geht hier vor allem um Klänge. Um Sounds aller Art. Vor allem aber: elektronisch, digital und möglichst abgefahren (dazu aber später mehr). Das Festival bietet ein ziemlich großes Angebot und eine wilde Mischung aus visuellen und auditiven Performances, DJ-Sets, Workshops und Soundexperimenten. Ach ja, und Klangkunst. Ihr versteht schon: Synthesizer, Beats, Rückkopplungen und verzerrte Töne aus allen möglichen Instrumenten. Immer mit dem Fokus auf der Kunst. Es gibt also richtig viel zu entdecken und für jede:n ist etwas dabei.
Was das Festival von anderen unterscheidet, sind die Spielorte. Denn es findet über mehrere Wochen komplett dezentral im ganzen Ruhrgebiet statt. In diesem Jahr vor allem in kleineren Locations. „Wir wollten jetzt nach der Pandemie mehr mit kleineren Spielorten arbeiten und diese auch richtig einbinden”, erklärt Karl-Heinz Blomann, der zum Veranstaltungsteam des Festivals gehört.
Okay, klingt cool. Aber wie ist denn jetzt so ein Abend? Wer spielt hier? Und lohnen sich die 10 bis 15 Euro Eintritt?
Um das herauszufinden, geht es in den Schlegel Kultur Club in Bochum. Drei internationale Acts performen hier im Keller der ehemaligen Brauerei ihre Kunst. Der Club ist klein, nicht prall gefüllt, aber auch absolut nicht leer. Es herrscht eine intime Wohnzimmerkonzert-Atmosphäre. Die begehrten Sitzplätze auf den Sofas vor der Bühne sind schnell vergriffen. Alle anderen sitzen auf dem Boden, die hinteren Reihen stehen. Nicht alle können die Bühne sehen. Für diesen Abend ist das aber überhaupt nicht schlimm. Es geht ja um die Klänge. Viele machen die Augen zu, andere richten ihre Blicke gebannt auf die performenden Künstler:innen.
Blaues Rauschen Festival im Schlegel Kultur Club
Den Start an diesem Abend macht der britische Künstler Dylan Henner. In seiner Kunst spielt er vor allem mit experimentellen Ambient Sounds und lässt riesige Klangwelten entstehen, die immer einer philosophischen Frage nachgehen. „What makes us human? What sounds human?”, fragt er an diesem Abend in Bochum. Was folgt sind sphärische Sounds, ruhige gesungene Harmonien und etwas, das nach Vogelgezwitscher klingt und sich durch seine gesamte Performance hindurchzieht. Seine Klänge sind mal schön, mal stressig. Rhythmisch, dröhnend, laut, leise und zugegeben: für einen kurzen Moment auch nervig monoton. Naja, wie die Menschen eben.
Nach dem Briten folgt der brasilianische Dozent und Klangkünstler Pedro Oliveira. In seiner Forschung beschäftigt sich der Brasilianer unter anderem mit rassistischen und postkolonialen Strukturen. Diese Einflüsse werden auch Teil seiner Kunst. So ist es auch an diesem Abend im Schlegel Kultur Club. Sein Stück basiert auf seiner Forschung zu Dialekterkennungsprogrammen. Diese werden auch im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge benutzt, um herauszufinden, wo die Geflüchteten herkommen, um sie gegebenenfalls abschieben zu können. „Ich möchte diese Verbindungen von Stimme zu Identität und Staatsangehörigkeit hinterfragen. Ich möchte sie als falsch entlarven und am Ende in die Tonne werfen”, erklärt Pedro Oliveira.
Das Publikum im Bann
Es folgt, was er versprochen hat. Ein düsteres Stück, das zwar ruhig beginnt, sich aber immer wütender werdend hochschaukelt und zuspitzt. Das Publikum darf zusehen, wie sich der Klangkünstler in seinem Element verliert und hochkonzentriert über seinen Synthesizern schwebt.
Apropos Publikum: Wie kommt der Abend bei den Besucher:innen eigentlich an? Nachfrageversuch auf den Sofas, den Premiumplätzen. „Ich weiß gar nicht, wie ich das beschreiben kann”, erzählt Giona. „ich finde es total bemerkenswert, wie emotional die Performances sind und wie sie es hier schaffen, einen für eine halbe Stunde in eine andere Welt zu bringen.”
Zum Abschluss wird das Publikum in eine dritte, letzte Welt entführt. Dafür sorgt su dance110. Der:die ursprünglich aus China stammende Künstler:in lebt heute in Berlin und zieht das Publikum in Bochum schon direkt zu Beginn der Performance in den Bann. Von düsteren elektronischen Beats begleitet, bewegt sich su dance110 wild und aufgeregt durch den Raum. Nach der Tanzperformance geht es direkt an das Mikrofon. Weiterhin von den derben, provokanten Beats begleitet, beginnt su dance110 plötzlich engelsgleich zu singen. Es folgen Sprechgesang, wilde Ausrufe und weitere Tanzeinlagen. Der ganze Club ist jetzt in eine düstere Stimmung gehüllt.
Blaues Rauschen: Was vom Abend bleibt
„Wir wollen für Auseinandersetzung und Diskurs sorgen. Mit Kunst die Köpfe öffnen”, benennt Karl-Heinz Blomann das Ziel des Festivals. Die nachdenklichen, konzentrierten, aber immer begeisterten Gesichter des Publikums geben ihm Recht. Das Konzept geht auf. Wer an diesem Abend im Schlegel Kultur Club ist, muss sich mit der Kunst, den Ansagen, den Konzepten der Klangkünstler:innen auseinandersetzen.
Blaues Rauschen ist für Fans von experimentellen Sounds und auditiver Kunst also auf jeden Fall einen Besuch wert. Bis zum 23.06. laufen die Events weiterhin an verschiedenen Orten. Das Festival schafft es, hochkarätige internationale Künstler:innen in das Ruhrgebiet zu holen und kleine Locations abseits der „Hochkultur” mit ins Boot zu holen. So entstehen interessante Abende und eine intime Atmosphäre zwischen den Künstler:innen, dem Publikum und den Spielorten. So wie an diesem Mittwochabend im Schlegel Kultur Club.
Bock auf mehr STROBO? Lest hier: Warum sich das Pollerwiesen überschätzt hat