Das „Wohnzimmer“ Gelsenkirchen: Kulturkollektiv im Porträt

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Vor zehn Jahren wurde es gestartet und ist mittlerweile zu einem professionellen Kulturbetrieb in Gelsenkirchen gewachsen: Das Kulturkollektiv Wohnzimmer GE veranstaltet Kulturevents von Konzerten bis hin zu Lesungen und prägt damit das Kulturleben in der Ruhrgebietsstadt. Ein Porträt. 

Die Zeche Wilhelmine Victoria ¼ – ein altes Steinkohlebergwerk in Gelsenkirchen. Das Haus ist mit rotem Klinker gebaut. Der Weg rechts vorbei führt zu einem Steintor. Geradeaus steht eine bunte Sprayer-Wand. Der Künstler Sponk reinigt gerade seine Spraydosenaufsätze. Neben der Wand befindet sich ein schwarzes Sofa und ein bunter Wegweiser, der einen über das Gelände navigiert. Rechts steht ein Stand mit Merchandise. Schwarze T-Shirts, Sticker und Buttons mit „Wohnzimmer“- Aufdruck.  

Links geht es zu einer eisernen Treppe. Bilder und Kunstwerke umringen den Weg nach oben. Blumenkübel hängen an der Treppe. Von einer Zwischenplattform überblickt man die Szenerie. Eine Stunde noch, bis die Jubiläumsfeier vom „Wohnzimmer“ startet. Es ist das zehnte Mal, dass das Kollektiv aus 20 Leuten seinen Geburtstag gefeiert. Mit Live-Konzerten ist es bekannt geworden.

Das Wohnzimmer Gelsenkirchen: Gründung gegen Kultursterben

Über die Treppe geht es ins „Wohnzimmer“ selbst. Zehn Jahre ist es her, dass die Gründer:innen Paul Pillath und Madeleine Lobodda ihre Idee auf Bierdeckeln verewigt haben. Ganz sicher sind sie sich aber nicht mehr, ob es eine Sekt-, Bier- oder Schnapsidee war. Damals hat Madeleine in der Kneipe „Rosamunde“ gearbeitet und Paul kennengelernt, der dort Veranstaltungen organisierte. 

Nachdem die „Rosamunde“ plötzlich schloss und das Kulturangebot in Gelsenkirchen fast endgültig verschwand, musste was Neues her. Durch den befreundeten Architekten Martin Güldenberg stießen Paul und Madeleine auf den Raum, der das heutige „Wohnzimmer“ ist. Martin ist auch heute noch ein guter Freund des Kollektivs und regelmäßiger Besucher. Die Location war damals bereits renoviert, aber leer. 

Mit der „Bringt-euer-Zeug-mit-Party“ wurde die Location mit Sesseln, Tischen und Sofas ausgestattet. Eine Bar, eine alte Lampe mit Fransen, ein braunes, ein rotes Sofa und einige Sessel stehen jetzt in dem gemütlichen Veranstaltungsraum. Der Blick nach oben offenbart Gitarren, die von der Decke hängen und bunte Lampenschirme. „Bei 80 Leuten wird es hier kuschelig“, sagt Madeleine lachend. Der rötliche Pony fällt ihr dabei ins Gesicht. 

„Wohnzimmer“ in Gelsenkirchen wird für Fernsehsender genutzt

Im Nebenraum hängen gemalte Bilder, ein grünes Sofa und etliche Polaroids von Künstler:innen, die bereits im Wohnzimmer zu Besuch waren. Die Live-Konzerte, Lesungen, Vernissagen und Open-Stages haben bisher 3.500 Künstler:innen aus 40 verschiedenen Ländern angelockt. Viele kommen öfter wieder. Auch Fernsehsender wie der WDR oder Sport1 nutzen das schnuckelige Wohnzimmer gerne als Kulisse und Veranstaltungsort. 

Über der Bühne im „Wohnzimmer“ hängt heute eine Leinwand, auf der abwechselnd alte Instagram Posts und Fotos erscheinen. Paul unterhält sich mit drei weiteren Mitgliedern aus dem Team. Eigentlich ist er Sozialwissenschaftler. Jetzt hat er sich ausschließlich dem „Wohnzimmer“ und dem angrenzenden Vermietungsbetrieb verschrieben. Trotz der Einnahmen durch den Vermietungsbetrieb, bleibt das „Wohnzimmer“ ein ehrenamtlich betriebener Verein. 

„Es fehlt einfach an Geld“: Über Förderungen der Stadt

Die Finanzierung war nicht immer einfach, erzählt Paul. Dennoch waren sie auch ohne öffentliche Gelder immer aktiv. Mittlerweile wird die Miete durch Förderungen gedeckelt. Doch diese kam erst nach vielen Jahren. „Die Stadt war sich bewusst über uns und schätzte uns natürlich, aber es fehlt einfach an Geld“, so Paul. Trotzdem stelle sich jedes Jahr die Frage, ob die öffentliche Förderung kommt. „Ein nervlicher Balanceakt“, sagt er. Durch Sponsoring und Spenden finanziert sich das Wohnzimmer zusätzlich.

Selten werden Eintrittsgelder verlangt. Meist geht nur ein Spendenhut am Ende herum. „Kulturarbeit ist nun mal ein Zuschussbetrieb”, sagt Paul. Es ist 15 Uhr. Noch eine Stunde, bis der Einlass beginnt. Zusammen werden ein paar letzte Vorkehrungen getroffen. Paul saust nach draußen. Er ist aufgeregt. Seit Monaten planen sie schon die Jubiläumsfeier. 

Seine Mutter Susanne steht hinter einer der rustikalen Bars, die mit Stickern übersät ist, und stellt Gläser zurecht. Sie war von Anfang an dabei und lächelt verschmitzt, wenn sie von ihrem Sohn spricht. Ein paar Falten zeichnen sich dabei ab. Blonde Haare umringen ihr Gesicht. Susanne ist eine der ältesten im Verein. Die Altersspanne der Mitglieder geht von 20 bis 66 Jahren. „Unfassbar, dass das alles schon zehn Jahre her ist“, sagt sie stolz.  

Wohnzimmer Gelsenkirchen: 20 Mitglieder sind in dem Verein aktiv

Plötzlich fallen ein paar Flaschen um. Susanne und zwei weitere Mitglieder des Teams stellen alles wieder zurecht. Christiane kommt aus dem Backstagebereich vom gegenüberliegenden Gebäude und gibt ein Update zum Catering. Das wird hier für die Künstler:innen immer selbst zubereitet. Eine halbe Stunde noch, bis das Event beginnt. Doch die Hektik nimmt ab. Nur die Deckel für die Kaffeekannen werden noch gesucht. 

 „Wir sind einfach ein eingespieltes Team und jeder hat sein Spezialgebiet. Manche sind besonders gut in der Deko, andere in der Technik und andere in Social Media.  „Das hat sich über die Jahre eingependelt“, erzählt Agnes. Bunte Tattoos schmücken ihre Arme. Sie ist seit acht Jahren dabei und wurde von ihrem Ex-Freund akquiriert. „Er ist gegangen und ich bin geblieben“, sagt sie lachend. Zwanzig Leute sind in dem Verein aktiv. 

Eine E-Gitarre ertönt. Die ersten Soundproben starten. Ein Schlagzeug und Gesang hallen dazu über das Gelände. Es ist zwanzig vor vier. Paul checkt die Technik. „Wo sind die Kabelbinder?“ Die ersten Besucher:innen finden sich auf dem Außenplatz ein, mit schwarzen Einlassbändchen. Die Tische sind mit Postern beklebt und Sonnenblumen sind einheitlich drauf drapiert.  An der braunen Bar können Getränke geholt werden. 

Sänger Hannes Weyland ist oft Gast im „Wohnzimmer“

Mirko unterhält sich dort mit Hannes. Er übernimmt viel „Website-Krams“ und kümmert sich um den öffentlichen Auftritt des „Wohnzimmers“. Schon früher hat er mit Paul Musik gemacht und begleitete den Prozess zum Kulturbetrieb von Beginn an. Hannes Weyland ist als Sänger regelmäßiger Gast im Wohnzimmer. Er moderiert auch durch die Jubiläumsveranstaltung und eröffnet das Konzert mit seinen sentimentalen Songs. Lauter Beifall ertönt, als er das gesamte Team auf die Bühne holt. Viele Danksagungen folgen. 

Das Event läuft seit einer Stunde. Die Aufregung ist verschwunden. Das Team steht vor der Bühne, lacht und genießt Currywurst mit Pommes. Die Sonne scheint und der Platz füllt sich weiter mit Besucher:innen. Alternative Indie-Musik von The Day strömt über das Gelände. The Planetoids und Il Civetto folgen im Programm. Bis in die Nacht wird getanzt. Angestoßen wird noch einige Male auf 3500 weitere Künstler:innen, die weiterhin ins Wohnzimmer kommen werden.  

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