Entschleunigung in der Deutschen Bahn – Ein Selbstversuch

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Seit dem 9-Euro Ticket, mittlerweile abgelöst vom Deutschlandticket, finden wir uns zeitlebens an den abgelegensten Bahnhöfen. Jeder zusätzliche Umstand scheint die eigene Rastlosigkeit und Anspannung zu verstärken und die Geduld auf die Probe zu stellen. STROBO-Autorin Emilia Straß hat diesen Anlass genutzt, um während hektischen Zugreisen und langen Umsteigezeiten herunterzukommen. Mit einem- viel eher mit mehreren Blicken- startet sie den an­ti­the­tischen Selbstversuch- Entschleunigung mit der Deutschen Bahn. Geht das?

Meine Kopfhörer lasse ich heute bewusst zu Hause. Mit einem langsamen, leichten Schritt laufe ich zur U-Bahn in der Kreuzstraße. Mit der Rolltreppe fahre ich hinab. Während ich im dunklen Tunnel des U-Bahn-Gleises stehe, werden eigene Gedanken so laut. Ich schau mich um. Links, rechts und ein Blick über die Schulter zeigt: alle am Handy. Ich höre, wie die Bahn den langen Tunnel entlang fährt, einen dünnen kühlen Luftsog erzeugt und meine Haare aufwühlt. Direkt vor meiner Nase bleibt sie stehen.

Am Dortmunder Hbf auf Abwegen

Für den Tag habe ich mir eine Route rausgesucht. Meine Bahn-App zeigt einen Halt in Holzwickede, Unna und Hagen. Alles Bahnhöfe, an denen ich noch nie war. Ich bin schon fast ein bisschen aufgeregt, weil ich nicht weiß was mich erwarten wird. Jetzt beginnt meine Suche. Nach Entschleunigung. 

Mit aufmerksamem Blick steige ich aus der Straßenbahn aus, warte bis ich von jeder Person hinter mir eingeholt werde und stapfe langsam zum Gleis am Dortmunder Hauptbahnhof. Auf dem Weg scheine ich besonders empfänglich auszusehen, bis ich Gleis 4 erreiche, ist mein Münzgeld nämlich leer. Ein drittes Mal werde ich angesprochen, blicke entschuldigend zurück, wünsche einen schönen Tag und stapfe die Treppen empor. Ich bleibe stehen. Vor mir der Aufgang zum Parkdeck. Dumpfe metallene Schritte führen mich nach oben, von rechts ein leichter Luftzug. Das Getümmel aus Stimmen und Menschenmengen wird weniger. Ich drehe mich mehrmals um die eigene Achse und schaue mich um. Sehe wie ein näher kommender Zug in den Bahnhof einfährt, ein anderer den Bahnhof verlässt. Verharre und atme einmal tief ein und wieder aus. Auf der Agenda steht ja schließlich Entschleunigung.

Ich öffne die DB-App und sehe: eine halbe Stunde noch mich die Regio nach Holzwickede fährt, meine Direktverbindung nach Unna ist nämlich entfallen.

Gedanke, während ich zurück zum Gleis gehe: Bestimmt braucht man auch ein gewisses Maß an Begeisterungsfähigkeit, um sich die Zeit angenehm zu vertreiben. Obwohl das heute nicht so schwer zu sein scheint. Wie mir am Gleis auffällt.

Darts-WM und Gleisbett-Urinieren

Gleis 4 heißt mich willkommen mit einem Konglomerat volltrunkener und kostümierter Männer. 

Ich mache mich so unsichtbar wie möglich, schleiche an den Scharen vorbei und lasse mich auf einer gemütlichen Bank im Raucherbereich nieder. Die sah nämlich einladender aus als die Übrigen Bänke am Gleis. Ich verbringe große Teile meiner Wartezeit damit, die Gruppen zu beobachten und die Kostüme in meinem Kopf zu bewerten. Wie unkreativ, denke ich. Das ist bestimmt die zweite Gruppe die nur aus Latzanzügen und roten Mützen besteht. Ich wünsche mir einen kleinen grünen Dino, eine Prinzessin, die nach einer Frucht benannt ist oder einen großen stacheligen Kerl mit Panzer auf dem Rücken. Nachdem ich sie mir ausgiebig angeschaut habe, öffne ich meine Google-Suche und gebe ein: „Was findet heute in Dortmund statt?“. Schnell stoße ich auf die diesjährige Darts-WM. Als meine Fragen und Verwirrung verflogen sind, schaue ich mich wieder um. Ich merke: weil ich mich so ausgiebig und schaulustig mit der feiernden Meute beschäftigt habe, bleibt mir keine Zeit über den weiteren Verlauf der Fahrt, noch an mögliche Verspätungen zu denken. Zufrieden lehne ich mich zurück. Ich lasse meinen Blick schweifen. Er bleibt hängen und ich sehe: Vor mir pisst einer vom Gleis.

Im Dortmund Express von Gleis (9 3/)4 nach Holzwickede

Die Bahn fährt ein. Türen öffnen sich. Ich gehe ein paar freie Reihen, bis ich in der Mitte des Ganges den Platz links von mir wähle. Ich setze mich hin, doch wir stehen noch einige Minuten im Bahnhof. Auf dem gegenüberliegenden Gleis steht eine Familie. Der dort aufbrechende ICE macht sich gemächlich auf den Weg. Erst fährt er an. Dann wird er stetig schneller.  Die Mama eilt vor, der übrige Teil der Familie folgt ihr. Wie eine kleine Entenfamilie. Winkend laufen sie noch ein Stück mit dem anfahrenden Zug mit, bis er zu schnell ist und aus meinem Blickfeld verschwindet. Ich denke an meine eigene Familie, die mich zum Zug begleitet, wenn ich nach einem Besuch in Baden-Baden zurück nach Dortmund fahre. Ich werde melancholisch, schätze den kleinen Perspektivwechsel aber wert. Er macht mir bewusst, wie wichtig eben diese Aufmerksamkeit für mich ist.

Mittlerweile sind wir losgefahren, ich denke: Ich hab noch nie meine Jacke im Zug aufgehängt. Oft empfinde ich die Strecke als zu kurz, um mich richtig sesshaft auf meinem Sitz zu machen. Doch ein Pärchen im Sitz vor mir hängt beide Jacken an einen Haken. Irgendwie direkt viel gemütlicher. Das finde ich gut! Das will ich auch, entscheide ich. Langsam schäle ich die Daunen von meinem Körper, ich fühle mich direkt befreiter und ich gestehe mir auch ein: Mir war ein bisschen warm in ihr.

Kleine Fans in großen Reihen

„OMG, da ist er ja!!!!“. Seit etwa 20 Minuten teile ich das Zugabteil mit einer Ausflugsgruppe von 10-jährigen Jungs. Sie unterhalten sich leidenschaftlich über Spezi, ihren Lieblingsverein und den Signal Iduna Park. Durch die große Scheibe der Regionalbahn blitzt er kurz hinter Bäumen hervor. Mit den großen gelben Stützarmen türmt sich der metallene Käfig vor uns auf. Freudiges und einstimmiges Schreien aus den Reihen hinter mir. 

Die Begeisterungsfähigkeit der Jungs scheint gar nicht aufzuhören. Ich muss lächeln. Dann hält der Zug an. Sie steigen aus. Das Zugabteil ist nun ruhig. Ab und zu hört man, wie jemand die Sitzposition unruhig verändert oder ein verhaltenes Schniefen und Räuspern. Ich hätte gern noch länger die belanglosen und beschwichtigenden Gespräche der Kinder mitgehört.

Sei der Kran!

Mittlerweile denke ich auch, jetzt wird’s so langsam stressig. Bisher ist auch gar nicht so viel passiert, wofür ich die Bahn verantwortlich machen könnte. Bis jetzt: Der Zug steht schon seit einigen Minuten und ich weiß nicht, ob ich meinen Anschluss nach Unna erreiche, geschweige denn überhaupt finde. Ich merke auch an den Gesichtern der Fahrgäste, dass schon einige Minuten bereits konditionierte Anspannung auslösen können. Am liebsten möchte man aufstehen und ein paar Runden an der frischen Luft laufen. Doch wir alle sitzen hier fest. Jetzt ruhig zu bleiben und das Warten geduldig zu ertragen, scheint ein Luxus zu sein, der nur wenigen vergönnt bleibt. 

Eine der Wenigen sitzt neben mir. Auf meine Frage, ob sie beim Bahnfahren auch mal entschleunigen könne, sagt sie nur: Das leichte Schaukeln und Wiegen der Bahn entspanne sie. Es gebe für sie überhaupt keinen Grund, gestresst zu sein. Und da fällt mir auf, wie Recht sie hat. Bewusst nimmt man seinen Umgebung ja dann doch nicht so oft wahr. Ich entkrampfe meinen Körper und lasse ihn also langsam mitschwanken. Lausche den mechanischen Geräuschen, die entstehen, wenn der Zug über die Schienen gleitet. 

-Meldung: Reparatur an der Strecke-

Ich verfehle meinen Anschluss vermutlich ganz knapp, denke ich.

Zwischenstopp: Holzwickede

Mein Anschlussbus nach Unna, ohne den ich von Dortmund aus nicht weiter komme, ist nicht ausgeschildert wie in der App. Nur durch Fragen schließe ich mich einer Gruppe an Reisenden mit demselben Ziel an. Wir rechnen mit einer Verspätung. Holzwickede ist mit 4 Gleisen zwar nicht die niedrig frequentierteste Station überhaupt. Heute aber auf alle Fälle die ruhigste. Gewartet haben wir. Viel durch die Gegend gestarrt. Auf dem einen Bein gestanden, Gewicht verlagert und dann auf dem anderen Bein gestanden. So lange, bis uns eine Passantin darauf aufmerksam gemacht hat, dass wir an der falschen Haltestelle standen. Sie nahm es sich zur Pflicht, uns den Weg zu weisen.

Erst durch eine Bahnhofsunterführung, ein kurzes Waldstück entlang. Bisschen Asphalt noch und schon waren wir da. Der Schienenersatzverkehr nach Unna steht überpünktlich an dem provisorisch errichteten Bushaltestellenschild. Der Busfahrer steht auf und kündigt schon mal an, er mache jetzt eine Pause. Ein Mann mit brauner Lederjacke verlässt die Fahrerkabine. Mit dem einen Bein verschränkt und dem Fuß auf dem anderen hockt er lässig auf der Bank und zündet sich eine Zigarette an. An seinem Handgelenk glänzt eine golden-gelblich schimmernde Uhr. Auch der Rest seines Outfits lässt nicht darauf schließen, dass er wenige Minuten später den Bus sicher nach Unna lenkt.

Er raucht zu Ende. Pünktlich fahren wir los

UNNAhmlich schön!

Auf dem Weg nach Unna spreche ich mit zwei Frauen, die für das Wochenende ihren Eltern einen Besuch abstatten. Auf meine Frage hin, ob man am Bahnhof Unna entschleunigen könne, krieg ich erstmal ein lautstarkes „Nein“. Bei längerem Nachhaken stellen wir gemeinsam fest, dass, wenn die Zeit dies hergibt, ein kurzer Besuch in der Eisdiele auf dem anliegenden Marktplatz einen ziemlich guten Ort zum Entspannen bietet. Dort angekommen, bestaune ich den Kiosk und die riesige UFO-Überdachung des Busbahnhofs. Auch den Marktplatz sehe ich mir an. In der Sonne sitzen Menschen auf den Stühlen des Lokals und unterhalten sich ausgelassen. Wie idyllisch kann ein Bahnhof denn nur sein?

Viel Zug fahre ich erst seit ich angefangen habe in meine Heimatstadt Baden-Baden im Süden Deutschlands zu pendeln. Anfänglich fiel es mir alles andere als leicht, die Umsteigezeiten anders zu verbringen, als ständig auf die Uhr zu schauen und angespannt am Gleis zu stehen. Festgewachsen stand ich dort. Manchmal 20, manchmal 30 Minuten. Manchmal sogar bis zu einer Stunde. Man mag gedacht haben: Helft dieser Frau, sie steht dort seit einer geschlagenen Stunde. Vielleicht hat sie Wurzeln geschlagen. Inzwischen erkunde ich gerne mal den Bahnhof. Auch über jedes ach so kleine Gespräch auf meiner Zugreise freue ich mich unheimlich. Ich amüsiere mich über viele kleine Dinge. Erinnere mich vermehrt gedanklich daran, dass ich über den Verlauf der Fahrt keine Kontrolle habe. Manchmal hilft es mir, mich gemeinsam mit Fahrgästen über Verspätungen aufzuregen. Macht irgendwie freier.

Das Gespenst des Hagener Hauptbahnhofs

Letzter Stopp: Ich steige aus dem Bus aus. Laufe das kurze Stück von der Busstation in den Bahnhof Hagen. Beim Überschreiten der Türschwelle kommt mir kalte, kläffende Luft entgegen. Hier fällt es schon erheblich schwerer zu entspannen. Ich schaue mich um. Ich sehe einen McDonald’s, für meinen Geschmack eine Bäckereifiliale zu viel und meinen Lichtblick: die Bahnhofsbuchhandlung. Sobald ich sie betrete, kehrt ein wenig Ruhe ein. Aber die gute Sorte. Das Licht hier ist gedämmt und auch der Boden federt leicht unter meinen Füßen. Ich studiere die Zeitschriftenabteilungen. Amüsiere mich über die etwa 30 verschiedenen Bahn-Prospekte. EisenbahnKlassik, digitale Modellbahn, Dampfbahn, BAHNextra, MIBAkompakt oder besonders charmant: LOKI.

Schließlich laufe ich zum Gleis. Wenn man die lange, klamme Unterführung durchkreuzt und endlich das Gleis erreicht hat, empfangen einen viele umschwungene Bögen und Metallmäste. Es fühlt sich kleinstädtisch an. Ich steige in die letzte Bahn der Tagesordnung ein und lasse Revue passieren. Ich erinnere mich zurück an meine ereignisreiche, kleine Reise durch mein geliebtes Ruhrgebiet. Mit der Deutschen-Bahn. Und sie war schön.

Ich bin überrascht. Sie war schön!

Ich fühle mich erschöpft und was ich nicht gedacht hätte, inspiriert. Klar will man sich auf Reisen in der Bahn mal abschirmen. Aber gerade dieses bewusste Wahrnehmen der Umgebung hat meinem Gemüt so eine gewisse Leichtigkeit verliehen. Der Zug steht. Doch ich bin entspannt und schaue aus dem Fenster. Jetzt im Winter ummanteln die rankenden Pflanzen die Stadt mit rostig rotbraunem Schimmer.

Bock auf mehr STROBO? Lest hier: Drum and Bass und Hexentum – Aylin Ogus im Portrait.

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