Gabelstapler fahren & Tagträumen – Ein Tag auf der Route der Industriekultur

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Industriekultur ist der Begriff, der häufig in einem Atemzug mit dem Ruhrgebiet genannt wird. Das Erbe von Zechen und Hochöfen, dem alten Ruhrgebiet, zeigt sich auch im Städte-Bild: Überall findet man die bronze-braunen Richtungsschilder der Route der Industriekultur. Doch was bleibt vom Industrieerbe? STROBO-Autor Max war einen Tag lang auf der Route unterwegs.

Es ist ein sonniger Tag im Februar, als ich den Parkplatz der DASA betrete. Der Frühling zeigt sich langsam, kalt und windig ist es aber immer noch. Die DASA in Dortmund – kurz für Deutsche Arbeitsschutzausstellung ­–  ist heute der erste Punkt, den ich für meinen Tag auf der Route der Industriekultur besuchen möchte. Und der fühlt sich für mich wie eine Rückkehr an. Ganz früher habe ich hier viele Nachmittage verbracht. Im Cockpit Pilot spielen, Roboter bestaunen, an dem riesigen Laptop zocken oder im Hubschrauber sitzen: Das waren für mich echte Highlights.

57 Standorte zählen zur Route der Industriekultur

Die DASA ist einer von 57 Primärstandorten, die zur Route der Industriekultur gehören. Sie teilt sich auf in 27 Ankerpunkte, meist Museen wie das Weltkulturerbe Zeche Zollverein, 13 Arbeitersiedlungen und 17 Panoramen, von denen man das ganze Ruhrgebiet überblicken kann. Sie alle sind – so steht es auf der Website – herausragende Zeugnisse der industriellen Vergangenheit und Gegenwart des Ruhrgebiets. Als Kind haben die Ausflüge auf der Route der Industriekultur meine Wochenenden bestimmt. Hier Hochofen anschauen, da mal ein Eis essen. Heute frage ich mich, ob und was sie für Menschen zwischen 20 und 30 bereithält.

Vorab hatte ich mich etwas durch den übersichtlichen Internetauftritt geklickt, der mir durch das erfrischend monochrome Design das Gefühl von Urbanität gibt, während ich mir Informationen über Fahrradtouren und tagfüllende Themenrouten durchlese. Am Ende entscheide ich mich dazu, jeweils einen Ankerpunkt, eine Siedlung und ein Panorama besuchen.

In der DASA wirke ich als Mittzwanziger erst einmal wie ein Fremdkörper. Aufgeregte Kinder zwischen 6 und 12 Jahren holen mich aus meiner Sonntags-Dösigkeit. Überall kann man was ausprobieren, anfassen oder bestaunen. Hier und da mühen sich Eltern in die Knie, um ihren Schützlingen zum Beispiel einen Roboterarm zu erklären, der durch eine Anweisung auf einer Tastatur gerade ein Puzzleteil hervorgeholt hat. Die Klassiker von damals sind auch heute noch beliebt, das Cockpit ist leider gesperrt. Ich probiere mich als Fluglotse aus, spiele wieder am riesigen Laptop herum und betätige ein paar Knöpfe am Schaltpult eines ehemaligen Stahlwerks.

Währenddessen kommen mir die riesigen Berufsorientierungsmessen in den Sinn, bei denen ich nur Interesse für teure Privatunis, die Bundeswehr oder hippe Startups gezeigt habe, um möglichst viele Kugelschreiber abzustauben. Statt Hochglanzprospekte zu drucken, könnte man Berufe auch erfahrbar machen, sich in authentische Berufssituationen begeben – das wäre doch mal eine Idee und sicherlich eine sinnvolle Herangehensweise, um dem Fachkräftemangel entgegenzutreten. In dieser Hinsicht ist die DASA also relevanter denn je.

Das Highlight in der DASA: Der Gabelstapler-Simulator

Während meine Gedanken weiter um das Thema Arbeit kreisen, bahne ich mir den Weg durch die etwas verwinkelten Ausstellungsräume. Neue Impulse zu den Themen Fake News und KI stehen nicht im Fokus meines Interesses, denn ich habe eine Mission: Gabelstapler fahren. Der Gabelstapler-Simulator war für mich als kleiner Dötz ein großes Event. Und auch mit Mitte 20 empfinde ich beim Manövrieren einer Bierfasspalette von Lagerhalle A nach Lagerhalle B großen Spaß. Nicht die Form von Spaß, wie man sie bei einer guten Clubnacht hat, sondern kindliche Freude am Tun, die irgendwo beim Erwachsenwerden auf der Strecke geblieben ist. Beflügelt von der Fahrfreude geht’s weiter zum LKW-Simulator.

Nachdem ich geduldig in einer Schlange mit Grundschulkinder gewartet habe, fahre ich den LKW konzentriert und präzise eine eisbedeckte Serpentinen-Strecke herunter. Ich freue mich, dass ich schneller als die Kinder vor mir war, hole mir noch ein „Gut gemacht!“ vom Aufpasser ab und verlasse mit Genugtuung die DASA in Richtung Auto. Es geht weiter zum nächsten Punkt meiner selbst zusammengestellten Route – eine Siedlung.

Foto: Ruhr Tourismus

Malerische Zechenkolonien auf der Route der Industriekultur

Zwischen Herne und Castrop-Rauxel im Herner Stadtteil Börnig gelegen, befindet sich die ehemalige Zechensiedlung Teutoburgia. Zwischen 1909 und 1923 entstanden hier 136 Gebäude mit über 450 Wohnungen für Arbeiter und Beamte der Zeche Teutoburgia. Im Gegensatz zu den eintönigen, pragmatischen und eher ärmlich wirkenden Siedlungen, die bereits im 19. Jahrhundert entstanden sind, wirkt die Siedlung Teutoburgia prunkvoller. Weil sie laut verschiedener Medienberichte als eine der schönsten Zechensiedlungen des Ruhrgebiets gilt, will ich mir an diesem Tag bei einem kleinen Mittagsspaziergang selbst ein Bild von der Siedlung machen.

Die hohen Vorschusslorbeeren werden der Siedlung jedenfalls gerecht: Von den großen Alleen gehen immer wieder kleine bogenförmige Straßen ab, die die freistehenden Siedlungshäuser umschließen. Die Häuser wurden mit der Zeit vollständig renoviert, erscheinen in beiger Fassade und ähneln sich zwar, sehen jedoch immer anders aus. Das erzeugt eine perfekte Balance zwischen Individualität und Gemeinschaft. Und so flaniere ich durch eine fast schon eingeschlafene Idylle in der Mittagssonne mitten im Ruhrgebiet.

An manchen Häusern verweisen alte Zechenloren auf glorreiche Industriezeiten. Statt eines Gartenzwerges sind kleine Zechentürme das It-Piece für den Vorgarten. An einer Straßenecke wehen an Häusern im Umkreis von 10 Metern die Fahnen von Borussia Dortmund, Schalke 04 und VfL Bochum im Wind.

Bisher hatte ich es für unmöglich gehalten, das Ruhrgebiet und Idylle in einem Satz zu verwenden, doch die Siedlung Teutoburgia belehrt mich während meines Spaziergangs eines Besseren. Ich male mir aus, wie es wäre, hier meine Kinder großzuziehen. Wenn ich mich nicht für ein Leben in der Großstadt entschieden hätte, würde ich am Tag darauf vielleicht meine Sparkassen-Beraterin für einen Kredit angerufen haben, um eine dieser malerischen Immobilien zu erwerben. Nach etwa 45 Minuten Tagträumen meine ich, jede Ecke erkundet zu haben. Aufregend ist dieser Ort mitnichten, aber wer sich den lauten Innenstädten einmal entziehen möchte, dem sei ein kleiner Spaziergang durch die Siedlung Teutoburgia ans Herz gelegt.

Ausblick über das gesamte Ruhrgebiet – der Landschaftspark Hoheward Herten

Etwa 20 Minuten Fahrzeit später finde ich mich auf einem gut besuchten Bergpfad in Herten wieder. Der letzte offizielle Punkt meiner persönlichen Route der Industriekultur: der Landschaftspark Hoheward Herten. Die zwei Berge sind seit 2000 durch Aufschüttungen der Bergwerke Recklinghausen II, Ewald, Schlägel und Eisen und General Blumenthal/Haard entstanden und heute als Halden Hoheward und Hoppenbruch bekannt. Schon auf dem Weg dahin frage ich mich, wie man bergverwöhnten Wochenendtourist:innen aus dem Süden beibringen kann, dass hier vor 30 Jahren noch alles flach war.

Das ist aber eine andere Sache. Heute scheinen die miteinander verbundenen Halden ein beliebter Ausflugsort für jegliche Altersgruppen zu sein. So kommen mir bei meiner Erklimmung der Berge Familien, Paare – oder solche, die es werden wollen – und kleine Freundeskreise entgegen, die ihren Ausflug schon hinter sich haben.

Foto: Ruhr Tourismus

Industriekultur als Kulisse für elektronische Musik

Vom ersten Etappenziel, einem markanten Obelisken, mache ich mich auf zur nächsten, noch etwas höher gelegenen Halde. Während der Wind mir um die Ohren peitscht und sicherlich eine Mütze sinnvoll gewesen wäre, nähere ich mich einer Metallkonstruktion, die – so erfahre ich in einer kurzen Recherche – der Horizontastronomie dient. Denn hier oben sollen ideale Bedingungen für die Beobachtung der Himmelszyklen und Gestirne herrschen. Ich kenne die Konstruktion lediglich aus dem new : life -Set von Mola Mola. Während der Corona-Zeit wurden mit aufwendigen Drohnen- und Kamerafahrten DJ-Live-Sets von Halden aus dem Ruhrgebiet gedreht, die an dem erfolgreichen YouTube-Live-Set-Format „Circle“ angelehnt sind und beispielsweise für einen neuen Umgang mit der Industriekultur stehen.

Nun kann ich mit meinen eigenen Augen das Ruhrgebiet überblicken. Ich zähle ungefähr zehn Windräder, die einzeln aus der bebauten Landschaft hervorstechen. Woanders pumpt ein Kraftwerk Rauch in die Atmosphäre und manchmal unterbrechen kleine Waldgebiete die Silhouetten von Wohngebieten, Industrieanlagen und Autobahnen. Zu guter Letzt fällt mein Blick noch auf die Veltins-Arena, das Stadion von Schalke 04. Junge Natur, Wohngebiete, Industrie und Fußball – von hier aus sieht man symbolisch den Strukturwandel, der sich im Ruhrgebiet schon vollzogen hat, an mancher Stelle noch vollzieht und an anderer Stelle niemals vollziehen wird. Der Wind wird stärker und meine Angst vor einer erneuten Erkältung größer. Ich verlasse die Halde wieder.

Döner bei Mehmet als inoffizieller Punkt auf der Route der Industriekultur

Auf dem Heimweg fahre ich noch an einem ganz besonderen Ort vorbei. Einem Ort, der offiziell nicht zur Route der Industriekultur gehört, aber aufgrund der langen Geschichte sicherlich einen Eintrag verdient hätte. Mitten in einer Herner Wohnsiedlung befindet sich der Deniz Grill, seines Zeichens der Lieblingsdöner von Dönerkunde. Das letzte Mal war ich dort, als mich Dönerkunde dorthin einlud, um ein Interview mit ihm zu führen. Damals wurde ich herzlich vom Besitzer Mehmet empfangen. Wir aßen eine Chaostasche und quatschten ausgelassen über dies und das. Mit einer Chaostasche – Döner mit Fleisch aus eigener Herstellung und Knoblauchwurst – soll dieser Tag nun enden. Gesättigt und etwas geschafft fahre ich heim. Ich frage mich: Was bleibt also von der Route der Industriekultur?

Man muss nicht unbedingt Interesse an der Geschichte des Ruhrgebiets haben, um sich ein Ausflugsziel auf der Route herauszusuchen. Gabelstapler fahren, in malerischen Siedlungen ein paar gute Instagram-Fotos schießen oder einen Spaziergang über Halden machen – so könnte man meinen Tag auf der Route auch erzählen. Und unabhängig von der wirklich lehrreichen Geschichte der Region ist die Route der Industriekultur vor allem eins: Inspiration für entspannte Ausflüge am Wochenende. Und genau das wird sie noch die nächsten Jahre bleiben.

Dieser Beitrag wurde finanziert durch: REACT-EU, ein Fond für regionale Entwicklung vom Land NRW und der EU. Mit freundlicher Unterstützung der Ruhr Tourismus GmbH.

Die Route Industriekultur verbindet als touristische Themenstraße die wichtigsten und attraktivsten Industriedenkmäler des Ruhrgebiets. Zum Netz der Route zählen 27 Ankerpunkte, Standorte mit besonderer historischer Bedeutung und herausragender touristischer Attraktivität. Daneben gehören 17 Aussichtspunkte, 13 Siedlungen und zahlreiche Themenrouten zur Route Industriekultur. Seit neuestem erscheint die Website in einem neuen Design.

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