Was passiert kulturell in den Orten abseits von Bochum, Essen und Dortmund? Dieser Frage gehen wir auf den Grund und verbringen einen Tag in acht Kleinstädten des Ruhrgebiets. STROBO-Redakteur Max war in Marl und hat versucht, der Kultur der Stadt auf den Grund zu gehen.
Dieser Artikel wurde gefördert durch den Förderpott Ruhr
Wie aus einem Trettmann-Musikvideo, in dem es um das Aufwachsen im „grauen Beton“ des Ostens geht, wirken die in den in den 70er und 80er Jahren errichteten Plattenbausiedlungen, die ich schon beim Abfahren von der Autobahn aus sehe. Marl – die zweitgrößte Stadt des Kreis Recklinghausen mit fast 90.000 Einwohnern:innen im nördlichen Ruhrgebiet – wartet auf mich. Einmal im Jahr trifft sich die Belletage der deutschen Medienwelt im Theater Marl, um den Grimme-Preis für außergewöhnliches Fernsehen entgegenzunehmen, aber sonst? Das gilt es herauszufinden. Wir machen uns auf die Suche nach der Kultur in Marl.
Um ein Gefühl für die Stadt zu bekommen, folgen wir der Beschilderung mit „Zentrum“, in der Hoffnung einen Ortskern zu finden. Wir werden enttäuscht. Auch nach mehreren Stunden werde ich nicht immer noch nicht wissen, wie genau die Stadt aufgebaut ist. Der Ortskern der Herzen ist der „Marler Stern“, ein riesiger Einkaufskomplex im Schatten der imposanten Plattenbauten. Ich weiß nicht, wie das Leben Anfang der 90er Jahre gewesen ist, aber beim Hindurchlaufen denke ich, dass es genauso ausgesehen haben muss. Das lässt zumindest das Schriftdesign der Außenbeleuchtung mancher Läden dort vermuten.
Ein Tag in Marl: Geschlossene Geschäfte, kleine Kneipen und jede Menge Wohnhäuser
Wirtschaftswachstum und Strukturwandel: Stellvertretend für das Ruhrgebiet können Interessierte anhand der brutalistischen Architektur erahnen, wie die Industrie erst für Aufschwung und dann für Arbeitslosigkeit gesorgt hat. Denn die grauen Wohnkomplexe, die aus dem Stadtbild herausragen und vielen Menschen ein Zuhause geben sollten und es immernoch tun, sind heute renovierungsbedürftig. Es gibt hier und da geschlossene Geschäfte, kleine Kneipen und vor allem jede Menge Wohnhäuser.
Der Marler Stern von innen. Foto: Leopold Achilles.
Marl: Von Platten und Big Beautiful Buildings
Was für mich „Platte“ heißt, sind für Claudia Schwidrik-Grebe „Big beautiful Buildings“. Sie ist unter anderem Dezernentin für die Kultur in der Stadt und war jahrelang Leiterin des Theaters in Marl. Zum Gespräch hat sie uns in die Sharoun-Schule eingeladen. „Wir wollen gar nicht mithalten mit Dortmund oder Bochum. Stattdessen versuchen wir Programmpunkte zu entwickeln, bei denen wir einzigartig sind“, erzählt sie. Das sind dann unter anderem jede Menge Skulpturen im öffentlichen Raum von renommierten Künstler:innen, wie zum Beispiel “La Tortuga” von Wolf Vostell. Eine umgedrehte, rostende Eisenbahn, die im zweiten Weltkrieg Güter an die Front und Menschen in Konzentrationslager brachte, soll das Spannungsverhältnis zwischen Mensch und Natur darstellen. Ein größeres Projekt ist im Rahmen einer Förderung eine Tanz-Aktion mit der renommierten Choreographin Sasha Waltz, bei der Ende August 2022 von den Einwohner:innen die Stadt „betanzt“ wird.
Kulturdezernentin Schwidrik-Grebe beim Gespräch in der Sharoun-Schule. Foto: Leopold Achilles.
Mit dieser Art von Projekten will Marl aus der großen Konkurrenz im Ruhrgebiet hervorstechen. Generell seien die Menschen hier offen für Experimente und nicht borniert, was man vielleicht erst einmal glauben mag. Die Marler:innen würden auch experimentelle Formate annehmen. Nichtsdestotrotz kann auch Schwidrik-Grebe nicht von der Hand weisen, dass viele Jugendliche nach dem Schulabschluss in andere Städte ziehen und so Potenzial verloren geht. Für manche Gruppen gäbe es vielleicht eben kein Angebot. „Eine Szene, wie es sie in großen Städten gibt, ist sicherlich etwas, was uns fehlt“, räumt sie ein. Unser erster Eindruck bestätigt ihre Aussagen, bei knapp 90.000 Einwohner:innen wollen wir die Suche aber noch nicht aufgeben. Also fahren wir weiter.
Am hiesigen Skatepark sprechen wir mit Dennis, 20 Jahre, der sich dort zum Start des Wochenendes mit einer Freundin getroffen hat. Mit V-Plus in der Hand und etwas achselzuckend antwortet er, darauf was denn in Marl gehe: „Marl ist langweilig.“
Das Marler Kino „Loe Studios“. Foto: Leopold Achilles.
Er fährt lieber nach Bochum und Essen, um etwas zu erleben. Im Kino, was es seit drei Jahren wieder gibt, kommen wir mit Felix ins Gespräch. Eigentlich wohnt er zum Studieren in Münster, am Wochenende fährt er jedoch oft nach Hause und hilft an der Kinokasse aus. Er wäre gern in Marl geblieben, wenn es mehr Angebote gegeben hätte. Und auch Anna, die nach dem Abschluss Marl in Richtung weite Welt verlassen hat, bestätigt unserem Fotografen Leopold auf Instagram besonders für junge Menschen die Abwesenheit von kulturellen Angeboten in Marl. Doch im Jugendzentrum Hagenbusch hätte es früher eine große linke Szene gegeben. Dort könnten wir es doch einmal probieren.
Poetry Slam, Queer-Treffs und die Toten Hosen: Das Hagenbusch in Marl
Das Hagenbusch gibt es seit 60 Jahren in Marl und ist seither bekannt als links-politisches Jugendzentrum. Seit 2011 befindet es sich in der Trägerschaft der Falken. Betrete ich es, kommt mir dieser typische Jugendzentrum-Duft entgegen, der einen Mix aus Jugendschweiß, langen Biernächten und alten Ledersofas andeutet. Ein Billiardtisch, drei Kicker und eine frisch renovierte Bar stehen im Aufenthaltsraum. In einem großen Saal spielen tagsüber Kinder mit Pedalos, an manchen Wochenenden finden hier Konzerte regionaler, aber auch internationaler Bands statt.
Wir sind mit Kai, der Einrichtungsleitung, und Martin, dem Koordinator für Events, verabredet. Beide sind irgendwie mit den Falken groß geworden, haben sich früher ehrenamtlich engagiert und arbeiten jetzt hauptberuflich für das Hagenbusch. „Für viele ist das Hagenbusch ein zweites Wohnzimmer“, erzählen sie stolz. Sie verweisen auf die lange Tradition sowie die vielen Angebote der Einrichtung. Auf der Bühne standen schon die Toten Hosen und viele weitere Bands haben hier erfolgreiche Konzerte gespielt. Das Alles ist aber schon eine lange Zeit her. Zuletzt hat Martin einen Poetry Slam (Wortmalerei) initiiert und auch ein Queer-Treff steht im Programm.
Martin und Kai vom Jugendzentrum Hagenbusch. Foto: Leopold Achilles.
Obgleich das Hagenbusch soziokulturell und jugendkulturell eine Konstante in Marl ist, beobachten Kai und Martin einige Veränderungen. Die finden überraschenderweise nicht auf strukturelle Ebene statt, sondern sind tiefer in Verhaltensmuster der Jugendlichen verankert. „Leute kommen hierher und sagen ‚Ihr müsst mal wieder eine Party machen‘, dann sage ich: ‚Gemeinsam mit euch! Wir planen das zusammen!‘ und dann kommt immer nur: „Wie? Mit uns..?“ Eigentlich hätten Sie alles da, auch am Geld scheitere es nicht, es fehle nur die Motivation.
Hinzu kommt, dass durch Rap und Home-Producing die Zeit von Bands vorbei ist. „Vielleicht ist die Jugend von heute noch etwas verschlafen“, überlegt Kai. Corona habe den Trend zwar noch verstärkt, dennoch freuen sich Martin und Kai, dass es jetzt wieder losgeht. An guten Tagen kämen dann um die 200 Menschen ins Hagenbusch, um Rock und Punk zu hören.
BexySitch: Marler Band wird auf Spotify von mehr als 60.000 Menschen gehört
Die Musik kommt zum Beispiel von der Alternativ- und Metalband „BexySitch“. Eine der wenigen jüngeren Bands aus Marl, dessen erfolgreichster Song „Bleeding Edge“ bei Spotify mehr als 60.000 Menschen gehört haben. Am Telefon erzählt Sängerin Liz von den Anfängen in Marl, ehe sie der Leiter bei weiteren Locations empfohlen hat und ihre Hörer:innenschaft anstieg: „Das Wunder der sozialen Medien schmeißt einen in die weite Welt hinaus. Irgendwie haben wir dann ganz viele Hörer:innen aus Malaysia bekommen.“
So schnell kann es gehen. Zwar wohnt die Band mittlerweile in alle Himmelsrichtungen verteilt, einmal in der Woche proben sie dennoch im Marler Musikbunker. Und wie sie Marl persönlich findet? „Eigentlich gefällt es mir in Marl. Es reden halt alle so, wie ihnen die Nase gewachsen ist.“ Zum Ausgehen fände sie dann andere Städte trotzdem besser.
Was kann die Politik denn tun, damit junge Menschen wie Liz oder Felix bleiben, um sich die Stadt zu eigen zu machen, frage ich mich. Die Antworten liefern mir meine Interviewpartner:innen. Zuletzt wollte die Stadt das kulturelle Profil neu ausrichten: Mehr weg von dem Blick auf die Einrichtungen der Stadt, hin zu mehr Vernetzung und Unterstützung freier Projekte.
Ein Tag in Marl: Fehlende Angebote für junge Menschen
In der Problemanalyse fallen zwei Punkte auf: Fehlende Angebote für und Einbindung von jungen Menschen, sowie mangelnde Vernetzung zwischen den Einrichtungen und Schaffenden. Zumindest bei Letzterem will die Stadt mit einer neugeschaffenen Stelle entgegenwirken. Martin vom Hagenbusch ist diesbezüglich gespannt. Es werde lieber irgendetwas Großes gefördert, als die Bereitschaft der Menschen, Kultur zu schaffen, meint er und führt fort: „Wir brauchen dringend eine Nachwuchsförderung.“
STROBO-Autor Max entdeckt die Kultur in Marl. Foto: Leopold Achilles.
Ich mache noch einen Abstecher beim urigen Irish Pub der Stadt, der neben einem veganen Restaurant in einem alten Fachwerkhaus beheimatet ist. Anschließend beende ich meinen Tag mit einer Partie Kicker beim Barabend im Hagenbusch mit den drei Jugendlichen, die an diesem Freitag vorbeigeschaut haben. Dass es in Marl unabhängig vom Hagenbusch nur vereinzelt Angebote für junge Menschen gibt, scheint allen Beteiligten bewusst zu sein. Man fährt dann eben woanders hin. Marl ist eher eine Stadt, in der man wohnt, nicht etwas erlebt – oder um es mit den Worten der Dezernentin Schwidrik-Grebe zu sagen: „Hier kann man sich besinnen, wenn man es positiv interpretieren möchte.“
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