Der Deaf Slam findet jedes Jahr im Jugendzentrum EMO in Essen Rüttenscheid statt und ist ein Poetry Slam für gehörlose Menschen. Über einen Abend in einer Parallelwelt, von der Hörende viel zu wenig mitbekommen.
Es ist ein ruhiger Abend im EMO. Das in einem Hinterhof versteckte Jugendzentrum wirkt zunächst sogar als hätte es geschlossen. Für Essen Rüttenscheid, einen Samstagabend und eine Veranstaltung mit Publikum eher ungewöhnlich. Im ersten Stock brennt trotzdem Licht. Der Leiter des Jugendzentrums Jürgen Humburg, einer der wenigen Hörenden, die an diesem Abend anwesend sind, wuselt noch aufgeregt durch den Saal. Zwischen Mischpult und Bühne hin und her. Beiläufig wird aufgeklärt, dass es an diesem Abend wegen der Pandemie kein Live-Publikum geben wird. Dafür gibt es einen Livestream – deswegen der Stress. Trotzdem wird der Deaf Slam am Ende mehr Zuschauer:innen haben, als in dem kleinen Saal möglich gewesen wären.
Deaf Slam in Essen: Slam für Gehörlose startet das achte Jahr in Folge
Was vor Beginn der Veranstaltung auffällt: Der Geräuschpegel. Fast ernüchternd ruhig. Dabei ist es einfach ungewohnt. Denn trotzdem wird sich angeregt unterhalten. In der Mitte des Saals sitzen die vier Slammer:innen, die später live gegeneinander antreten werden. Sie bewegen Arme, Hände und Finger. Fließende Gebärdensprache. Ihre Mimik macht deutlich, was sie dabei fühlen. Genauer beobachtet: Eine Mischung aus Vorfreude und Aufregung.
Um die Slammer:innen herum herrscht hingegen deutlich mehr Nervosität. Der Stream, das Bühnenbild, das Licht. Alles scheint noch nicht so richtig zu stimmen. „In welche Kamera sollen wir dann gucken?”, Die hier oben.” Das kleine Kaminfeuer wird noch in die Mitte der Bühne gerückt, die Mikrofone der beiden Dolmetscherinnen getestet. Dann startet der Deaf Slam endlich – im achten Jahr in Folge.
Die Idee dazu hatte Jürgen Humburg. „Ich bin damals an einem Sportplatz vorbeigefahren. Da waren dann Jugendliche, die wie wild gebärdet haben. Das ist doch wie Poesie, dachte ich ”, erzählt der Leiter des Jugendzentrums. Daraufhin habe Humburg das RBW Essen kontaktiert und so seine Partner:innen für den Deaf Slam gefunden. Jedem Slam geht nämlich ein Workshop voran. In dem sollen die Teilnehmenden lernen, sich mit ihren Themen auseinanderzusetzen und eine Geschichte zu erarbeiten. Diese muss auf der Bühne aber auch performt werden. Das scheint zunächst gar nicht so einfach.
„Klar ist das anders. Normale Gebärdensprache ist eben Alltagssprache. Auf der Bühne geht es aber mehr um Ausstrahlung und darum sein Inneres nach Außen zu kehren”, erklärt Adrian Becker, der später den zweiten Platz machen wird. Auch die beiden Dolmetscherinnen kriegen das, was auf der Bühne passiert, selbst noch in Alltags-Gebärdensprache übersetzt. So wird die ausdrucksvollere Bühnen-Gebärdensprache über zwei Stationen für die Hörenden im Stream und vor Ort übersetzt.
Deaf Slam:„Poesie ist eine andere Form in der Gebärdensprache ”
Die Themen des Deaf Slams sind dabei auffallend alltäglich. Die Slammer:innen erzählen von Selbstbewusstsein, Feminismus und dem Leid der Welt. Mal poetisch, mal ernst, mal mit einer ordentlichen Ladung Humor. Auf den ersten Blick also wie jeder Poetry Slam. Der Hauptunterschied liegt, neben der Sprache natürlich, vor allem in dem Ausdruck ihrer Emotionen. Die Teilnehmenden des Deaf Slams legen so viel ihrer Gefühle in ihre Bühnenperformance, dass selbst ohne Übersetzung fast klar wird, worum es geht. So soll es auch sein, denn die Dolmetscherinnen wollen hier lediglich einen roten Faden bieten. Der eigentlich Ausdruck findet auf der Bühne statt und ist nicht übersetzbar.
Den Inhalt der Geschichten unmissverständlich, frech und direkt zu vermitteln, ist Ziel des Workshops. „Poesie ist eine andere Form in der Gebärdensprache, das ist ein bisschen 80er. Mir war es wichtig, dass es diesmal noch mehr Slam wird. Dass wir also mehr und direkter davon erzählen was uns bedrückt. Ich freue mich, dass das dieses Mal so gut geklappt hat, das soll auch in Zukunft so sein ” , erklärt Rafael Grombelka, der den Workshop leitet. Grombelka ist selbst gehörloser Schauspieler, Performancekünstler und Übersetzer. Auch in der RTL-Show „Das Supertalent” war er im letzten Jahr zu sehen.
Rafael Grombelka: Workshopleiter, Schauspieler, Performancekünstler und Übersetzer. Foto: Samir El Hannaoui.
Sein Ziel, dass der Abend mehr zum tatsächlichen Slam wird, hat er jedenfalls erreicht. Die Slammer:innen sind mutig, direkt und haben keine Angst irgendwem auf die Füße zu treten.
Gleich die erste Teilnehmerin macht sich über Hörende lustig, in dem sie den Spieß umdreht: „Ich weiß gar nicht wie die kommunizieren, die bewegen ja nur ihre Lippen.” Auch der Sieger des Abends Dominik Weitz geht mit viel Humor an sein Thema heran. Seine Performance handelt von den alltäglichen Vorurteilen gegenüber Dicken. Mal sarkastisch, mal völlig ernst. Er verspottet Stereotype. Er zieht Augenbrauen hoch, verdreht die Augen, streichelt seinen Bauch. „Das war gar nicht so einfach eine Geschichte zu entwickeln und etwas zu erzählen was mich so beschäftigt und betrifft. Der Prozess hat mir aber total gefallen”, erzählt Weitz.
Deaf Slam in Essen ist Vorreiter in Sachen inklusiver Kultur
Zum Applaus fliegen in der Gebärdensprache übrigens wackelnde Hände in die Luft, die ein bisschen an Jazz-Hands erinnern. Auch der Chat zum Stream, der zwischendurch an der hinteren Wand der Bühne angezeigt wird, verschriftlicht seinen Applaus. Einige Zuschauer:innen benutzen statt des üblichen Klatsch-Emojis aber auch Hände, die an den Gebärde-Applaus erinnern. Es ist eine Community. Bis zu 750 Aufrufe erreicht der Stream noch am Samstagabend. Ganz ohne großartige Bewerbung des Events.
Sieger Dominik Weitz und der Zweitplatzierte Adrian Becker (von links). Foto: Samir El Hannaoui.
Der Stream vom letzten Jahr zählt mittlerweile rund 4700 Klicks auf YouTube. 4700 Menschen, die sich einen Poetry Slam in Gebärdensprache anschauen zeigen auch: Es ist eine große und von Hörenden teils vergessene Community, die Kultur erlebt und selbst welche schafft. Eine Community in der es Performancekünstler:innen und Schauspieler:innen, Übersetzer:innen und Lehrer:innen gibt.
Sie veranstalten Aufführungen, Ausstellungen, Filme, Poetry Slams und vieles mehr für gehörlose Menschen. Für Hörende oft unsichtbar und trotzdem jeden Tag da. Der Deaf Slam ist hier ein Vorreiter in Sachen inklusiver Kultur. Im Stream und im Publikum schauen nämlich längst nicht nur hörgeschädigte Menschen zu. Hier wird deutlich wie Kultur verschiedene Lebenswelten zusammenbringt und vereinen kann.
Bock auf mehr STROBO? Lest hier: Der inklusive Chor aus Dortmund