Wieso das Kino ein Raum für feministische Gegenerzählungen ist

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Das Kino ist ein Raum, an dem sich gesellschaftliche Machtverhältnisse spiegeln und in dem sie legitimiert werden. Dass solche Zustände nicht unabänderlich sind, sondern herausgefordert und transformiert werden können, zeigte das 40. Internationale Frauen Film Fest in Dortmund dieses Jahr wieder mit kämpferischer Wucht!

Die Filmwelt als unschuldiges Unterhaltungsmedium

Kino gilt vielen von uns als Ort der Verzauberung, des Fallenlassens und der Flucht vor der Enge des Alltags – Welten, die vorher nicht in unserer Reichweite lagen, erscheinen plötzlich in greifbarer Nähe. Aber auch das uns Bekannte, Alltägliche, Monotone schillert im Kino in bunten Farben und lässt uns die eigene Welt ein Stück weit facettenreicher und interessanter erscheinen. Spätestens seit #MeToo ist jedoch mit aller Deutlichkeit klar geworden: Die Film- und Serienwelt ist kein unschuldiges Unterhaltungsinstrument. Sie ist durchsetzt von sexistischen, rassistischen, ableistischen und weiteren intersektional wirkenden Faktoren – vor und hinter der Kamera.

Das bedeutet, dass uns Filme nicht nur in ihre Erzählungen einbinden bzw. unsere Blicke auf unsere Umgebung und auf uns selbst beeinflussen. Das bedeutet eben auch, dass sie nie außerhalb unserer Realität existieren, sondern sie ein Teil von ihr sind. Mit dem gefallsüchtigen Highschool-Mädchen, der unterdrückten Muslima oder dem schwulen besten Freund werden profillose Figuren auf die Leinwand projiziert, die aus stereotypen Vorstellungen westlicher Gesellschaften resultieren.

Dass die Filmwelt ein politischer Raum ist, an dem sich gesellschaftliche Machtverhältnisse widerspiegeln, lässt sich zuletzt auch an der ungleichen Teilhabe von u. a. Frauen in der Filmindustrie erkennen. Kameramänner, Regisseure und Produzenten dominieren das Metier. Damit ist der male gaze die filmische Norm und unsere Blickgewohnheiten sind patriarchalen Maßstäben ausgesetzt.

Der Film als transformativer Gestaltungsraum: Feministische Gegenerzählungen auf der Leinwand

Film kann aber auch gesellschaftlichen Wandel vorantreiben. Das zeigte sich mit kämpferischer Wucht beim diesjährigen Internationalen Frauen Film Fest. Das Fest feierte in Dortmund vom 18.04 bis zum 23.04.2023 sein vierzigstes Jubiläum. Die überwältigende Filmbandbreite erinnerte an unsere feministischen Vorreiter:innen (wie zum Beispiel Helke Sander und Monika Treut) und ließ solidarische Verbindungen zu historischen Kämpfen und Widerständen deutlich werden. Sie eröffnete queer-feministische Utopien, ließ uns neugierig in neue Gebiete vorstoßen. Solche, die zuvor nicht im Bereich des Vorstellbaren zu sein schienen und heteronormativen Sehgewohnheiten nicht standhalten können.

Eröffnet hat das Festival der Film Angry Annie (2022) von der Regisseurin Blandine Lenoir. Ihr Werk macht die Zuschauer:innen mit der Protagonistin Annie bekannt. Annie stößt im Frankreich der 1970er Jahre nach einer ungewollten Schwangerschaft auf eine feministische Untergrundorganisation, die für das Abtreibungsrecht einsteht und Schwangerschaftsabbrüche organisiert. Aus Annies anfänglicher Verzweiflung entwickelt sich ein unaufhaltbarer Prozess der Selbstermächtigung und Solidarisierung mit anderen Betroffenen und unterstützenden Personen. Aus dem Film lässt sich schließen, dass feministische Solidarität nicht ausgedient hat, sondern Berge versetzen kann. Sowohl im Kleinen durch die Politisierung einer einzelnen Person als auch im Großen durch Vergemeinschaftung und politischen Kampf.

An anderer Stelle setzt Motherhood (2022, Pilar Palomero) an. Der Preisträgerfilm im Internationalen Spielfilmwettbewerb wurde von der Jury, bestehend aus Helke Sander, Maria Furtwängler und Sara Fazilat, ausgezeichnet. Feinfühlig werden darin die Lebensrealitäten junger Mütter dargestellt, die ihre Kindheit abrupt durch einen frühzeitigen Eintritt in das Erwachsensein eintauschen müssen. Dabei erleben sie Erfahrungen der Einsamkeit wie auch ungeahnter weiblicher Solidarität. Mutterschaft wird hier aus einer radikal neuen Perspektive erzählt. Frei von romantisierenden Stereotypen, aber auch fern von düsteren Darstellungen von Situationen der Ausweglosigkeit, wird hier ein Bild der Uneindeutigkeiten und Ambivalenzen gezeichnet.

Neue Repräsentationen schaffen neue Realitäten 

Wenn Filme dazu in der Lage sind, eingespielte Gesellschaftsverhältnisse zu unterstützen, können sie diese auch durchbrechen und neu definieren. Die audio-visuelle Repräsentation unterdrückter Lebensweisen fernab von passiven Opferbildern oder einseitigen Rollenklischees bedeutet einen Schritt Richtung von Realitäten außerhalb von Diskriminierung, Ausbeutung und Marginalisierung. Sie können unsere unhinterfragten Gewissheiten in ein neues Licht rücken, uns neuen aktivistischen Mut verleihen, uns zu neuen (queer-feministisch intersektionalen) Solidargemeinschaften motivieren.

All diese Versprechen hat das Internationale Frauen Film Fest in diesem Jahr zum vierzigsten Mal auf besondere Weise eingelöst: Durch die Verbindung eines feministischen Filmprogramms mit Räumen physischer Begegnung, in denen sich nicht nur über das Gesehene ausgetauscht wurde, sondern in denen auch gefeiert und solidarisiert wurde. Die Zuschauer:innen und Beteiligten schmiedeten neue Bündnisse, feierten und tanzten gemeinsam und – nicht zuletzt – arbeiteten sie an der Umsetzung neuer feministischer Utopien.

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