„Entweder wird es mich töten oder es wird mich retten“ – Gloria Carobini über das Projekt von Marina Abramović

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Gloria Carobini ist Tanz-Studentin an der Folkwang Universität der Künste. Dort nimmt sie die vergangenen Monate an einem Projekt der weltbekannten Performancekünstlerin Marina Abramović teil. Im Zuge dessen vertraut die Studentin ihren Körper und Geist ganz Abramovićs Methoden an. STROBO erzählt die Studentin, wie es ist, mit der Künstlerin zu arbeiten.

Die 23-Jährige Gloria Carobini weiß, was sie will und dafür arbeitet sie hart. Ihr Kalender ist voll mit vielen Proben und Nebenjobs. Neben zeitgenössischem Tanz studiert sie noch Ernährungswissenschaften – irgendwie schafft sie das alles unter einen Hut zu bringen. Schon mit 13 Jahren zog die Italienerin von zu Hause aus, um für ihre erste Company zu tanzen. Parallel beendet sie die Schule. Jetzt ist Gloria Teil des neuen Projekts der berühmten Künstlerin Marina Abramović. Die Ergebnisse werden vom 30. Juni bis zum 9. Juli 2023 im Museum Folkwang gezeigt.  

Gloria Carobini: „Probleme mit meinen Gefühlen“

Auf den ersten Blick wirkt Gloria ruhig und fokussiert. Doch der erste Eindruck täuscht. Glorias Emotionen sind das, was sie manchmal ganz schön aus der Bahn werfen können. Vor einigen Monaten wird bei ihr eine Borderline-Störung diagnostiziert. „Ich hatte Probleme mit meinen Gefühlen. Manchmal fühle ich zu viel und ich kann nicht davor wegrennen“, erklärt sie.

Zur Zeit der Diagnose beginnt an der Folkwang Universität das interdisziplinäre Performance-Projekt von Marina Abramović, an dem auch Gloria teilnimmt. Die Künstlerin ist für ihre extremen Langzeit-Performances bekannt, die oft lebensbedrohlich sind. Eigene Grenzen und Ängste zu überwinden und das Bewusstsein zu erweitern, ist dabei ihr Ziel. Abramovićs Arbeit zeichnet sich dadurch aus, dass der eigene Körper der Gegenstand und das Zentrum ihrer Arbeiten ist.

Mit 26 ausgewählten Studierenden startet die serbische Künstlerin in die ersten beiden Workshop-Phasen, die jeweils anderthalb Wochen dauern. Hier entwickeln die Studierenden gemeinsam mit der Dozentin eigene und gemeinsame Performances.

Gloria spricht über das Projekt von Marina Abramović. Foto: Lennart Neuhaus.

Höhepunkt des Projekts: Griechenland 

Höhepunkt des Projekts ist der „Cleaning the House Workshop“. Er findet mit allen Teilnehmenden für neun Tage in Griechenland statt. Der Fokus der Einheit liegt auf der Konzentrationsförderung der Studierenden, damit sie auch in intensiven Situationen längst möglich performen können. Marina Abramovićs Übungen sind von unterschiedlichen spirituellen Praktiken weltweit inspiriert. Sie sollen Gedanken reinigen und helfen, Emotionen besser widerstehen zu können.

An fünf von neun Tagen fasten Abramović und die Studierenden gemeinsam und sprechen nicht. Es gibt lediglich Tee, Wasser, Honig und Agavendicksaft. Jeder Tag beginnt draußen, barfuß und im Pyjama. Nach einem kleinen Workout und Atemübungen wird abschließend Eiswasser über den Kopf gekippt. In dieser Zeit gibt es kein Shampoo, kein Deo, keine Bücher, keine Zigaretten. 

Dafür tägliche Übungen, die erst mal befremdlich wirken. Stundenlanges Rückwärtslaufen und sich im Spiegel anschauen. Drei Stunden eine bunte Wand betrachten, vier Stunden eine Tür öffnen und schließen. Reis und Linsen voneinander trennen. „Am Ende hatte ich 11.875 Reiskörner in sechs Stunden aus Linsen aussortiert. Ich hatte das Gefühl, dass jedes Reiskorn eine meiner Tränen ist. Das war die Übung, die mich am meisten herausgefordert hat“, erinnert sich Gloria.

Marina Abramović sorgt für neue Erkenntnisse

Gloria fühlt sich bei Marina Abramović und den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern sicher und unterstützt. Sie öffnet sich dem Programm, obwohl die Studentin nicht immer den Sinn der Übungen versteht. Ihr Wunsch ist es, dass sie das Beste aus der Zeit für sich mitnimmt. Deshalb beschließt sie, den Regeln bedingungslos zu folgen. „Ich habe immer gesagt: entweder wird es mich töten oder es wird mich retten“, sagt Gloria mit ruhiger Stimme. „Ich war mir aber eigentlich sicher, dass das Projekt meinen Problemen helfen wird. Dass ich mich wieder verbinde mit mir selbst”, erzählt sie.

Gloria Carobini wird durch das Projekt von Marina Abramović mit ihren Ängsten konfrontiert. Foto: Samir El Hannaoui.

Für Gloria ist es eine sehr intensive und befreiende Zeit, in der sie sich mit ihren Denkmustern und Gewohnheiten neu auseinandersetzt. Normalerweise sei sie oft zu spät zu Terminen und deshalb gestresst. Aber durch die Übungen habe sie gelernt, sich bewusst Zeit für Dinge zu nehmen und sich und ihre Umwelt besser wahrzunehmen. 

Es gibt eine Situation, in der sie mit ihren Ängsten vor Spinnen konfrontiert wird. Als sie in ihrem Schlafzimmer eine entdeckt, kann sie nicht schreien, da zu dieser Zeit nicht gesprochen werden darf. Also habe sie sich langsam der Situation angenommen. Irgendwann habe sie sich gefragt, ob sie eigentlich wirklich Angst habe oder sich selber nur überzeugen wolle, Angst zu haben. „Diese Erkenntnis hat mich sehr befreit”, berichtet Gloria dankbar.

Gloria Carobini: „Hier habe ich mich wohl gefühlt“

Dass sie Dinge tun kann, ohne sich zu vergleichen, ist für die Studentin eine weitere bewegende Erkenntnis. Der Workshop bietet ihr einen sicheren Rahmen, sodass sie sich frei fühlt, sich den anderen ohne Kleidung zu zeigen. „Wäre ich in einem Tanz-Kontext gewesen, dann wäre mir nicht wohl dabei gewesen, den anderen meinen nackten Körper zu zeigen. Aber hier habe ich mich wohl gefühlt”,  sagt sie mit leuchtenden Augen. 

Sie habe keine Person gesehen, die sich darüber Gedanken machte, ob sie durch das Fasten Gewicht verloren habe. Niemandem sei es um Äußerlichkeiten gegangen. Es gehe darum, durch die Übungen ein höheres Ziel und eine intensive Erfahrung zu erleben. Diese Erkenntnis scheint für Gloria heilsam zu sein.

Emotionales Fastenbrechen

Am letzten Abend der Fastenphase essen die Teilnehmenden das erste Mal wieder gemeinsam. Es gibt Reis, der mit den Händen gegessen wird. Das ist auch der Moment, in dem sie wieder sprechen dürfen. Eine Oper-Studentin habe irgendwann plötzlich angefangen zu summen. Viele machten es ihr gleich. Auch in Gloria habe sich in diesem Moment tiefe Dankbarkeit breitgemacht. Für ihre persönliche Entwicklung und die intime Verbundenheit unter den Teilnehmenden.

Das ganze Projekt soll primär dazu führen, dass das Durchhaltevermögen und die Fokussierung der Studierenden gestärkt und die Konzentration für die Performances gefördert wird. Doch es bewegt viele der Studierenden besonders auf persönlicher Ebene. 

Es scheint, als sei es für Gloria die richtige Entscheidung gewesen, sich Marina Abramović und ihren Methoden hinzugeben – seien sie noch so befremdlich. Die Studentin ist immer noch sehr bewegt von der Zeit und beschreibt sich als nachhaltig verändert. Es wirkt, als sei sich Gloria ihrer Person, Grenzen und Lebensführung bewusster geworden. Ein Stück reifer im Umgang mit sich selbst. „Ich hatte wirklich das Gefühl, dass ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Ich fühle mich wie ein anderer Mensch“, erinnert sie sich.

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