Ballett und Oper sind Genres, die auf die breite Masse vor allem festgelegte Assoziationen hervorrufen: teuer, elitär und veraltet. Also warum existiert das Image noch? Zwischen Theater-Flatrate und Popkultur hat sich STROBO-Autorin Birte Mundhenk im Rahmen der „Schwanensee“-Aufführung des Theater Dortmunds mit den Klischees des Balletts auseinandergesetzt.
Bis ich sechs Jahre alt war, habe ich Ballett getanzt. Dann haben wir uns aus den Augen verloren. Die Tänzerin auf meiner Spieluhr und die KIKA-Serie „Dance Academy“ waren mein einzig verbliebener Berührungspunkt, wie bei vielen Menschen meiner Generation. Vorurteile haben sich irgendwann doch etabliert, sie kommen ja auch nicht von irgendwo. Jedoch hat besonders die Branche der klassischen Kultur den Druck des gesellschaftlichen Wandels im Nacken und versucht vor allem junge Menschen an die Spielstätten zu binden.
Das Theater Dortmund hat durch eine Kooperation mit den Hochschulen (FH und TU) eine Theater-Flatrate eingeführt, bei der Studierende kostenlos Veranstaltungen des Theaters, der Oper, des Balletts und des Konzerthauses besuchen kann. Laut Website des Theater Dortmunds können Studierende durch die Registrierung „jeweils ein kostenloses Ticket zur persönlichen Nutzung für Vorstellungen im Theater Dortmund erhalten”. Der Studierendenpreis von 12,50 € gilt ab einer Woche vor Veranstaltung und es gibt grundsätzlich Rabatte für Studierende. Damit ist zumindest das private Finanzierungsproblem gelöst, das elitäre Image bleibt.
Das Ding mit dem Dresscode
15 Jahre nachdem ich meine Schläppchen an den Nagel gehängt habe, sollte ich meine Abneigung gegenüber der Kunst der hochnäsigen Klassik-Hörer:innen allerdings überwinden, denn: Ich habe mich für die Theater-Flatrate registriert. Mit Studirabatt im Gepäck traue ich mich in den Tanz aller Tänze im Ballett aller Balletts mit den Tutus aller Tutus: „Schwanensee“.
Eine halbe Stunde vor Einlass komme ich am Theater Dortmund an. Die vorherige Einführung in das Stück verpasse ich, da ich mich nicht für ein angemessenes Outfit entscheiden konnte, weil „Hallo? Ich geh ins Ballett, da sitzen Frauen mit Broschen und Männer mit Pfeifen!“. Angekommen fühle ich mich total overdressed und zudem uninformiert. Überraschend viele Menschen, mit durchschnittlich höherem Alter, sind in Alltagskleidung gehüllt. Ich habe also weder Ahnung vom Klientel noch von der Handlung, weshalb ich in der Schlange zum Sekt erst einmal zu einer Suchmaschine meiner Wahl auf meinem mobilen Endgerät greife und mich kurz und knapp informiere:
Musik von Tschaikowski, Uraufführung 1877 am Bolschoi-Theater in Moskau, vier Akte über Siegfried und Odette, die wird in einen Schwan verwandelt und nur ewige Liebe kann sie wieder zurück verwandeln. Und klar, es gibt eine Choreo, in der Schwäne auf Spitze mit überkreuzten Armen sehr elegant rumhüpfen.
Viele Pirouetten und wilder Beifall
Mein Platz ist ganz oben, ich habe eine erstaunlich gute Sicht auf die Bühne und den Orchestergraben, die Show kann also losgehen: Vorhang auf! Klassische Musik ertönt und ein Mann sitzt auf der Bühne und räkelt sich auf dem Boden. Dann tanzen viele Leute Soli oder als Paar und dann tanzen viele Paare im Ensemble, es passiert auf jeden Fall viel.
Zwischendrin wird rege geklatscht, was mich am Anfang total verwirrt, denn ich verortete meine Aufgabe im stillen Sitzen und Schweigen. Auf so eine Interaktion des Publikums war ich nicht eingestellt, aber ich kann mich schnell anpassen und klatsche begeistert mit. Denn es ist ein Spektakel für Augen und Ohren. Eine Menge der Tänzer:innen springen grazil wie Gazellen durch die Lüfte, drehen Pirouette nach Pirouette, schlürfen dann wieder ihren imaginären Sekt und stehen zehn Minuten am Rand, während andere Menschen das Rampenlicht genießen.
Strumpfhosen und andere Rätsel
Zwischen Violinensoli, buntem Bühnenbild und den spektakulären Choreographien kommen mir aber einige Fragen, die ich mir an diesem Abend beantworten will: Muss Ballett heteronormative Rollenbilder verkörpern? Kann ein „altes“ Ballett die Themen unserer modernen Gesellschaft aufgreifen? Und wieso diese Strumpfhosen bei Männern?
Die kurze Antwort: Jein. Vielleicht ist ein so eingesessenes Stück ein schlechtes Beispiel für die Auflösung der gegebenen Geschlechterrollen, aber es gibt ja auch modernes Ballett. Allerdings werden nicht nur Frauen von Männern hochgehoben, einmal wird Siegfried von anderen Tänzern hochgehievt. Schnell wird mir klar, dass die Physiologie von Tänzern wohl einfach nicht dafür gemacht ist, den Boden zu verlassen. Ballettintendant Xin Peng Wang hat es allerdings geschafft, das Stück durch eine teilweise Neuinterpretation, zeitgenössisch einzubinden. Siegfried ist ein psychisch labiler Künstler, der sich zwischen einem Schwanwahn und seiner Vernissage verliert. Cool!
Uncool finde ich aber die oberkörperfreien Männer, die im dritten Akt die Bühne erstürmen. Das Entblößen hat für mich keinerlei erkennbare handlungsunterstützende Funktion, zumindest ein Hemdchen wäre doch angebracht. Vielleicht holt es die älteren Frauen ab, die sich nach jungen Körpern sehnen (oder so?), mich jedenfalls nicht. Es lichtet aber wohl doch noch den Stand der Gesellschaft und somit der Besucher:innen ab.
Und zuletzt bleibt die Strumpfhosenfrage: Ist das Tragen von Strumpfhosen auch teilweise ein zeitlos feministisches Statement oder doch einfach funktionell? Ich kann sie an diesem Abend nicht beantworten, eher wirft sie persönliche Fragen bei mir auf: Finde ich das attraktiv oder gar abstoßend? Und was sagt das über mich aus? Als ich meine Jacke hole, sagt eine Dame, es sei der beste Schwan gewesen, den sie je gesehen hat und sie habe schon viele gesehen.
Ein Plus für Bequemlichkeit
Ich konnte einige Erkenntnisse sammeln und mitnehmen: Ballett ist – zumindest für das Publikum –physisch bequem, ihr könnt die ganze Zeit sitzen, ohne euch rühren zu müssen. Allerdings ist aufstehen, mittanzen oder gar singen tabu. Manchmal kann das ganz schön langweilig werden. Ihr könnt Stücke sehen, ohne sie verstehen zu müssen, es tanzen schöne Menschen zu schöner Musik und wer will kann wegdösen. Allerdings ohne zu schnarchen, sonst stört ihr alle anderen und bekommt ein böses „psssssschhhhhttt!“ von der Reihe dahinter.
Alles in allem ist es eine wunderbare Abendunternehmung, ein bisschen aufregend, aber auf jeden Fall bequemer als das ein oder andere Popkonzert und inzwischen mindestens genauso politisch. Mag man es elitär finden, so sei es, jedoch ist die Kulturbranche ein wichtiger Teil der kollektiven Identität (ein Thema für sich) und tut viel um sich der breiten Masse zu öffnen. Kulturbanaus:in ist man nur, wenn man sich davor verschließt. Ein Versuch ist es zumindest wert, vor allem, wenn es kostenlose Karten gibt.
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