Ein Tag in Recklinghausen: Wo sich die internationale Kunst und Theaterszene treffen

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Was passiert kulturell in den Orten abseits von Bochum, Essen und Dortmund? Dieser Frage gehen wir auf den Grund und verbringen einen Tag in acht Kleinstädten des Ruhrgebiets. STROBO-Redakteurin Anastasia war in der Ruhrfestspielstadt Recklinghausen unterwegs.

Dieser Artikel wurde gefördert durch den Förderpott Ruhr.

Blecherner Hardstyle drängt von den Billig-Kopfhörern meines Zugnachbarns in meine Ohren. Mit silber glitzernder Kreuzkette, der Anhänger hat die geschätzte Größe einer Packung Kippen, steht er locker angelehnt im Gang des RE 42. Gemeinsam reisen wir von Wanne-Eickel nach Recklinghausen, es ist warm und stickig im Zug. Angekommen mische ich mich unter die Masse von jungen, lauten Menschen und Müttern mit Kindern und bahne mir den Weg zum Bahnhofsvorplatz. Recklinghausen – ganz analog – zeigt mir mit einem unübersehbaren Wegweiser die nächsten Sehenswürdigkeiten an.

Eins davon: die 100 Meter entfernte Kunsthalle. Das Gebäude, ein ehemaliger Bunker im Zweiten Weltkrieg, empfängt die Besucher:innen direkt gegenüber von den Gleisen des Nahverkehrs. Das Programm des Museum wirkt erstaunlich international – genauso wie der Direktor Nico Anklam. Studiert in New York, kuratiert er nun seit mehr als einem Jahr die Ausstellungen in Recklinghausen. Für ihn eine große Ehre, denn das Haus sei über die Grenzen des Ruhrgebiets hinweg bekannt, erzählt er.

Die Lage am Bahnhof, sei gemacht fürs „einfach reinstolpern“. Perfekt für seine Strategie, die er mit der Kunsthalle verfolgt: Er möchte das Haus weiter öffnen für die Bewohner:innen Recklinghausens, auch für ein junges Publikum.

Die Kunsthalle Recklinghausen: Ein Ort für alle Generationen

Dabei setzt er auf internationale Künstler:innen, die in der Kunsthalle ausstellen dürfen. Zu den diesjährigen Ruhrfestspielen lud er die Künstlerin Flo Kaserau aus Estland ein, die ihr noch recht junges Lebenswerk präsentierte. „Recklinghausen ist eine sehr pittoreske Stadt, ich war überrascht, wie schön es hier ist“ , findet der Direktor. Anklam freut es besonders, dass der Austausch zwischen den 21 Ruhrkunstmuseen sehr ergiebig sei und die Museen sich als eine Einheit verstünden. In Zukunft möchte er weiterhin das gesamte Publikum ansprechen: „Das soll ein Haus für alle sein, egal ob jung oder alt“, sagt der Museumsleiter.

Recklinghausen ist internationaler als ich dachte. Nicht nur die Kunsthalle fördert junge Künstler:innen aus dem Ausland – auch die Ruhrfestspiele laden jährlich internationale Theatergruppen ein. Eines der größten ältesten Theaterfestival in ganz Europa ist das Aushängeschild der Stadt. Passend dazu thront das Ruhrfestspielhaus auf einem Hügel oberhalb der Innenstadt. Nach dem anstrengenden Aufgang stehe ich schwer atmend vor dem kolossalen Glashaus. Über dem rechteckigen Gebäude hängt ein Gitterdach, es lässt das Spielhaus noch einnehmender erscheinen.

Das Ruhrfestspielhaus: Kultur im Theater und auf der Laderampe

Bis auf die Hochzeitsgesellschaft, die im Restaurant im Spielhaus feiert, ist der Glaskasten leer. Die Ruhrfestspiele, das bedeutendste Event, findet im Spätfrühling statt –  doch ganz ohne Veranstaltungen können die Stadt und das Haus dennoch nicht. Wer braucht den grünen Park und die imposante Front, wenn wir Veranstaltungen auf der Beton umgebenden Laderampe auf dem Parkplatz machen können, dachte sich das Kulturbüro und organisiert Poetry Slams, Lesungen und Comedy-Shows auf der wenig modernen Seite des Spielhauses. Lange Stuhlreihen auf dem Betonboden warten auf die Zuschauer:innen und den Künstler an diesem Abend. Die Bühne ist eine Rampe, an der normalerweise Laster andocken. Recklinghausen kann auch weniger glamourös.

Die Vorstellungen seien meistens gut besucht, erzählen die Techniker, die ein letztes Mal die Lautsprecher testen. Ob das Programm auch junge Leute anziehe? Das komme ganz auf die Person auf der Bühne an, bei dem Slam heute hoffen sie auf ein jüngeres Publikum. Allgemein sei es schwer, in Recklinghausen etwas Cooles zu unternehmen, erzählen die jüngeren Männer. Eine Empfehlung haben sie dann doch: das Drübbelken.

Recklinghausen: Kunst in der Kneipe

Hohe Decken, dunkle Holzvertäfelung an den Wänden. Wer reinkommt, sieht der Kneipe ihr Alter an, die 1906 eröffnet wurde – und das im Positiven. Neonfarbene Bilder hängen an der Wänden und brechen mit dem Eindruck, es handele sich hier um einen vor Nostalgie trotzenden Ort. Inden 1980er ist das früher sehr gehobene Lokal zur Studentenkneipe geworden, heute vereint es Essen, Trinken, Live-Konzerte und Galerie in einem.

Die Bilder an den Wänden tauscht Daniel Hageleit alle paar Monate aus. Seit mehreren Jahren ist er der Besitzer des Drübbelken, das für ihn einer der Kulturorte in Recklinghausen geworden ist. Nach acht Jahren als Mitarbeiter übernahm er das Lokal 2017. Durch die Kunsthalle und die Ruhrfestspiele, gäbe es hier eine etablierte Kunst- und Theaterszene.

Er will sein Restaurant nutzen, um jungen Künstler:innen und Musiker:innen ohne große Hürden einen Ort für ihr Schaffen zu geben. Die Konzerte werden sehr gut angenommen, erzählt er. Das Drübbelken ist seit Jahrzehnten ein fester Bestandteil der Recklinghäuser Altstadt und kooperiert während der Spielzeit auch mit den Ruhrfestspielen. Außerdem lässt er öfter Bands aus der Altstadtschmiede spielen, dem Soziokulturelles Zentrum und Jugendzentrum der Stadt.

Das Vinyl-Spirit: Platten aus dem Ruhrgebiet

Junge Bands aus dem Ort fördert auch Vinyl-Spirit, der lokale Plattenladen in der Altstadt. Das Logo hängt über dem Schaufenster auf der gelben Hauswand. Zwei Adler, zwischen zwei Platten platziert, schauen von dem Schild auf die Passant:innen herab. Kleine rote Sterne dienen als Punkte für das „i“ im Namen. Der kleine Laden ist mit Platten zutapeziert. Neben den altbewährten Platten von Metallica, Pet Shop Boys oder Pink Floyd, finden sich Kassetten und LPs von Bands aus dem Ruhrgebiet. Eine Platte der „Rollersportgruppe“ aus Oer-Erkenschwick hängt im Schaufenster.

Der Besitzer Jannis Karapanos hat viele Kund:innen, die für die lokalen Platten kommen, die es sonst nur online gäbe. Auch der Tätowierer vom Shop nebenan würde seine Musik über den Vinyl Shop verkaufen, erzählt er. Erst seit Anfang 2021 verkauft er Platten im Vinyl-Spirit, umgeben von Kneipen und kleinen Boutiquen in der Altstadt, zahlt sich der gute Standort für ihn bisher aus, erzählt er.

Raus aus dem Laden schlendere ich ein letztes Mal durch Recklinghausen, viele der bekannten Orte, wie das Ikonen-Museum oder die Sternenwarte haben heute geschlossen. Wir laufen an kleinen Fachwerkhäusern zurück zum Bahnhof. Egal ob glamouröse Ruhrfestspiele, das Drübbelken oder die Kunsthalle, Recklinghausen hat interessante Kulturorte zu bieten, die offen für junge Positionen sind. Ich bin mir sicher: Mein Besuch in Recklinghausen war nicht der Letzte für mich. 

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