STROBO:Stimmen: „Warum dieses mürrische Gesicht?!“ von Lina Atfah

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Bei den STROBO:Stimmen vom literaturgebiet.ruhr und STROBO schreiben junge Schriftsteller:innen aus dem Ruhrgebiet über ihre Perspektiven zum Leben. Im Juli beantwortet uns Lina Atfah die Frage: Was beschäftigt dich?

Lächle! Sagte der Fotograf.
“Zeige deine schönen Zähne!“
“Warum ist es so schwer zu lächeln?”
Zum ersten Mal merke ich, dass zu lächeln nicht einfach ist und meine Gesichtsmuskeln sich mit der Entspannung quälen, bis sie ein leichtes Lächeln zeichnen können. Nach einem langen Fototermin, bei dem ich häufig lachte und weinte, kam mir der Gedanke, dass die Traurigkeit leichter ist und meine Tränen immer großzügig fließen. Der Weg zu den Tränen ist kürzer als der zum Lächeln mit den schönen Zähnen.

In der arabischen Tradition sagt man: „Die Traurigkeit ist die Zakat des Herzens”.
Die Zakat ist ein pflichtgemäßes Almosen, das die Muslime jährlich zahlen, um ihr Eigentum vor Katastrophen zu schützen und den Segen und das Wachstum ihres Lebensunterhaltes zu sichern, daneben vielleicht einen Platz im Paradies später.
Die Traurigkeit ist das Almosen des Herzens, als würden wir heute trauern, um uns vor der kommenden Katastrophe zu schützen – als wäre die Traurigkeit ein Training für das Herz, um dem Schlimmsten standzuhalten, oder als wäre es eine Sühne für eine frühere Freude oder eine Steuer, um eine zukünftige Freude zu verdienen. Dieses Sprichwort fasst die Tiefe und Komplexität der kollektiven Beziehung der Araberinnen und Araber zur Traurigkeit zusammen.

In Syrien und zu Beginn meines Aufenthalts in Deutschland waren meine Gedichte traurig, dramatisch und voller Tragödien. Dies hing mit meiner Sicht auf die Poesie, ihre Funktion und das tragische Leben der Menschen in meinem Heimatland zusammen. Aber auch damit – und das ist mir kürzlich aufgefallen –, dass ich, wie viele Menschen in meinem Heimatland, Traurigkeit liebe und mit ihr vertraut bin. Ich finde sie romantisch und lyrisch, passend zur Poesie, zu meinen Augen und meinem Gesicht. Am Ende wurde mir klar, dass Traurigkeit zu einer Gewohnheit, einer Sucht und einem tiefen, dringenden Bedürfnis geworden war.

Nach einigen Jahren in Deutschland und durch den Austausch und die Zusammenarbeit mit deutschen Schriftsteller*innen und Dichter*innen lernte ich, den Ausblick der Poesie in meiner Fantasie zu erweitern, weiter als Tragödie und die großen Fragen. Ich konnte auch auf die kleinen Einzelheiten achten und mein Schreiben etwas von der Klage und dem Lyrismus entfernen. Ich lernte, dass ein kleiner Witz in einem Gedicht es auf eine höhere Ebene heben kann.
Doch jedes Mal, wenn ich die Tendenz der Menschen hier sehe, sich zu entspannen und einfache, alltägliche Freude zu suchen, bekomme ich Kopfschmerzen. Ich kann nicht ganz verstehen, was bei mir all diese Anspannung und Angst auslöst, wenn die anderen nach Freude suchen – als ob darin Sünde liege, glücklich zu sein. Einer meiner Lieblingsdichter, Muhammad Almaghut, der aus meiner Heimatstadt Salamiyah stammt, hat eine wunderbare Gedichtsammlung mit dem Titel „Freude ist nicht mein Beruf” geschrieben. Als ob dieser Titel sagen würde, dass die Trauer ein Handwerk für alle sei, die in einem von einer Militärdiktatur regierten Land leben, wo die Freude ein strafbares Verbrechen ist.

In einem der vielen Berichte, die dazu führten, dass mein Vater verhaftet wurde, bevor er uns nach Deutschland folgen konnte, stand: „Als die Demonstration an der Straße vor seiner Haustür vorbeizog, sah man ihn stolz und lächelnd auf dem Bürgersteig stehen.”
Solche Berichte sind von Informanten des Geheimdienstes verfasst und darauf folgen entweder eine Reihe von Verhören, eine Verhaftung oder das Verschwinden des Angeklagten, abhängig von der Sensibilität des Staates gegenüber dem Inhalt des Berichts. Mein Vater wurde zur Befragung vorgeladen und zum großen Teil ging es um die Bedeutung, Ursache und den Zeitpunkt seines Lächelns. Das Verhör dauerte viele Stunden, einen ganzen Werktag im sengenden Sommer Syriens, ohne ihm Wasser anzubieten, obwohl er ein chronischer Herzpatient ist. Und nach jedem Verhör warf der Vernehmer seinen Lieblingswitz ein: „Sind Sie jetzt glücklich, Herr Atfah? Sie müssen aufpassen, wann und wo Sie lächeln. Lächeln Sie doch noch mal für mich, wenn Sie können!“ Und er lachte allein.

Bis jetzt kann ich kaum glauben, dass mein Vater überlebt hat. Und wenn wir uns an die Details des verrückten Lebens erinnern, die wir erlebt haben, lachen wir. Aber solches Lachen ist kein Zeichen von Freude, sondern vielmehr der Wunsch zu glauben, dass wir wirklich überlebt haben. Das deutsche Publikum fragt mich manchmal, wie man lachen kann, wenn man diese schmerzhaften Details erzählt. Ich lächle und lache vielleicht so etwas wie bittere Freude, weil ich endlich in der Lage bin, den anderen von den Gründen für die tiefe Traurigkeit zu erzählen, die ich und viele Syrerinnen und Syrer ertragen.

Aus dem Arabischen von Osman Yousufi.
Die arabische Originalversion findet ihr hier.

Über die Autorin: Lina Atfah

Aufgewachsen in Syrien, angekommen in Wanne-Eickel: Bevor Lina Atfah 2014 die Erlaubnis erhielt, das Land zu verlassen, und nach Deutschland kam, studierte sie in Damaskus arabische Literatur. Lina Atfahs Werke sind von poetischen Reflexionen über Identität, Kultur und menschliche Beziehungen geprägt. Sie veröffentlichte bereits mehrere Gedichtbände und wurde mit verschiedenen renommierten Stipendien und Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem LiBeraturpreis. Ihr aktuelles Buch „Grabtuch aus Schmetterlingen“ stand auf der Shortlist zum Leipziger Buchpreis 2023.

Foto: Osman Yousufi

Das Key-Visual von STROBO:Stimmen stammt von Britta Wagner.

STROBO:Stimmen ist ein Gemeinschaftsprojekt von STROBO und literaturgebiet.ruhr.

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