Wunsch nach Safe-Spaces im Poetry Slam: Sven Hensel im Interview über Queerness und Stolz

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Bei seinen Poetry-Slams verzaubert der gebürtige Gelsenkirchener Sven Hensel das Publikum mit seiner offenen Art und Texten, die sich nicht labeln lassen. Der 27-Jährige spricht sowohl auf als auch hinter der Bühne offen über das Schwul-Sein. Im Interview erzählt er über seinen Weg zu Stolz und Selbstbewusstsein und seinen queeren Kurzfilm. 

Wenn Sven Hensel in den Raum kommt, fällt das Scheinwerferlicht auf ihn. Den Mittelpunkt des Raumes füllt er mit einer Selbstverständlichkeit aus, die einen sofort fesselt und in den Bann zieht. Bei seinen Poetry-Slams verzaubert der gebürtige Gelsenkirchener das Publikum mit einer offenen Art und Texten, die sich nicht labeln lassen. Lustig und ernst, Prosa und Lyrik, mischen sich in den Werken und ergeben eine Wundertüte, die so bunt ist, wie Sven selbst.

Um seine Sexualität macht der 27-Jährige keinen Hehl und spricht sowohl auf als auch hinter der Bühne offen über das Schwul-Sein. Neben Poetry-Slams ist Sven auch für seinen Kurzfilm und mehrere Bücher bekannt, die sich ebenfalls mit dem Thema befassen. Im Interview erzählt er über seinen Weg zu Stolz und Selbstbewusstsein im Umgang mit der eigenen Person, was ihn bei der Regie-Führung seines Kurzfilms bewegte und was das Leben im Pott für ihn bedeutet. 

STROBO: Sven, inhaltlich gehst du sehr offen mit deiner Sexualität und auch mit Gefühlen um. Wie gelingt dir diese Offenheit und das Thematisieren eigener Schwächen auf der Bühne? 

Sven: Was mir beim Offen-Sein hilft ist, mir das Recht radikal einzuräumen, über meine eigene Queerness zu sprechen. Mir wurde oft der Mund zugehalten, wenn es um Themen rund um die eigene Sexualität ging. Ich bin in Gelsenkirchen aufgewachsen, ich war sicher nicht der einzige Schwule im Dorf, aber Homosexualität war kein Thema, dem man im Alltag begegnet ist. Ich möchte den Menschen einfach ein Beispiel geben: Wie kann ein authentisches queeres Leben in derselben Selbstverständlichkeit aussehen, wie es jeder cis-hetero Mann auf die Bühne bringt?

STROBO: Wie steht es denn im Allgemeinen um Offenheit und Akzeptanz in der Poetry-Slam-Szene? Ist es besser als in der Gesamtgesellschaft? 

Sven: Die Tendenz in der Szene geht eher Richtung Respekt und Toleranz, aber ich habe auch  schon das Gefühl gehabt, ich wurde diskriminiert. Auch Mitauftretende und andere queere Leute aus der Szene haben mir schon erzählt, dass sie aufgrund ihrer radikalen Offenheit nicht mehr eingeladen wurden. Das hat mich betrübt. Umso wichtiger ist es für mich, durch Queer-Slams nochmal einen gesonderten Raum zu haben, wo dann auch wirklich nur wir Gehör finden und auch wirklich nur wir Platz auf der Bühne haben. Diesen Safe-Space wünsche ich mir insgesamt. 

STROBO-Inside: Sven Hensel

Sven Hensel wurde am 22. Juli 1995 in Gelsenkirchen geboren. Dort, im Zentrum des Ruhrgebiets, spielten sich seine Kindheit und Jugend ab. Eine Zeit, die gemischte Gefühle hinterließ. Im Gespräch wird schnell klar, dass Sven keinen Lokalpatriotismus gegenüber seiner Heimatstadt hegt. Den Abstieg des in Gelsenkirchen sesshaften Schalke 04s begrüßt der 27-Jährige beispielsweise, weil ihn der extreme Fußball-Kult nervt. Auch die Verschlossenheit im Umgang mit Homosexualität bemängelt er an der Großstadt. Für sein Studium wanderte er ins benachbarte Bochum ab, wo er auch heutzutage wohnt. Bekannt wurde Sven durch seine Poetry-Slams. Seit 2014 steht Sven auf der Bühne und trägt Texte vor, die sich hauptsächlich mit seiner Homosexualität befassen. Charakteristisch für seine Auftritte ist neben einer lauten Erscheinung der abwechslungsreiche Vortragsstil, in dem sich häufig vermeintliche Widersprüche einen. Verschiedene Auszeichnungen und Errungenschaften schmücken die Biografie des Slam-Poeten. Darunter beispielsweise der Sieg in der U-20 Meisterschaft in Bochum 2015. Auch hinter der Bühne ist Sven engagiert. So ist er seit 2014 Mitorganisator des Wohnzimmerslams im Dortmunder Café Taranta Babu. Abseits der Welt um Poetry-Slam war Sven an der Herausgabe mehrerer Bücher beteiligt und führte beim 2017 erschienen Kurzfilm „Cruising“ Regie, der auf YouTube über 2 Millionen Klicks erreichte. 

STROBO: Deine Texte im Allgemeinen variieren stilistisch so, dass du manchmal mehr in Gedichtform, manchmal eher sachtextartig schreibst. Wie würdest du in eigenen Worten den roten Faden beschreiben, der sich durch dein Werk zieht?  

Sven:  Wenn ich in einen Backstage-Bereich komme und Leute mich nicht kennen, fragen sie mich als erstes: Machst du Lyrik oder Prosa? Machst du lustig oder ernst? Ich finde die Binarität dieser Frage doof, weil sie die Kunst einschränkt. Kunst darf beides und nichts davon sein. Mich interessiert der Kontrast und ich denke, viele Künstler:innen lassen sich von diesen Kisten gendern oder labeln. Und das ist nichts, was ich mir auf die Kappe schreiben möchte. Dann ist Poetry-Slam nicht mehr die Wundertüte, sondern die Lustig- oder Ernst-Show. Und das finde ich scheiße.  

STROBO: Also ist es die Wundertüte,  die den roten Faden ausmacht? 

Sven: Total. Es ist auch für mich selbst spannender, als wenn ich mich nur in einer Kategorie oder Dimension ausprobiere. Es ist auch gut, sich aus der eigenen Komfortzone rauszuholen und über sich selbst hinauszuwachsen. Das sind selbst auferlegte Ketten, wenn man sagt, man kann nur lustig oder man kann nur ernst. 

STROBO: Über sich selbst hinauswachsen ist ein gutes Stichwort. Denn du bist ja jetzt schon ein paar Jahre dabei. 2014 war dein erste Auftritt. Wie hast du dich in dieser Zeit als Person aber auch inhaltlich weiterentwickelt? 

Sven: Ich würde sagen, dass der Mensch, der ich am Anfang meiner Poetry Slam Karriere war, immer noch irgendwo in mir steckt – aber der bin ich nicht mehr. Ich war ein 18- oder 19-jähriger, ungeouteter Abiturient, der nichts mit seinem Leben anzufangen wusste. Auf der Bühne hat sich auch mein Coming-Out ein bisschen durch meine Texte gestaltet. Ich bin jetzt bei Weitem stolzer und weiter, als ich ohne je gewesen wäre.

Wenn du als Mensch in meinem Alter queere Kurzfilme auf YouTube geguckt hast, merkst du: Die sind immer tragisch und scheiße am Ende. Also nicht qualitativ, aber du willst heulen, weil es die Geschichten viel zu wahr sind.

Sven Hensel (27), Poetry Slammer

STROBO : Du meintest jetzt gerade schon, du bist manchmal etwas extrovertierter, manchmal etwas introvertierter. Auf der Bühne bist du jedenfalls laut. Wie unterscheidet sich der Sven Hensel auf der Bühne von dem hinter der Bühne? 

Sven: Je nachdem worum es geht, channele ich natürlich ein Fragment meiner Persönlichkeit stärker als das andere, aber insgesamt bleibe ich hinter und vor der Bühne ich selbst. Was ich aber mitbekomme ist, dass ich durch die Bühne immer das Gefühl bekomme, eine erhöhte Version von mir selbst zu sein. Mit dem Bild, dem ich selbst entsprechen möchte, bin ich am meisten kongruent, wenn ich im Rampenlicht stehe. 

STROBO: Neben dem Poetry Slam hast du bei dem 2017 erschienenen  Kurzfilm „Cruising“ Regie geführt. Der Protagonist geht hier sehr selbstbewusst mit seiner Sexualität um. Wolltest du einen Charakter formen, der idealtypische Züge hat? 

Sven: Genau. „Cruising“ war auf keinen Fall eine Performance, die einen starken Realitätsbezug hatte. Der Fokus der Geschichte lag darauf, das Coming-Out nicht zu katastrophisieren. Wenn du als Mensch in meinem Alter queere Kurzfilme auf YouTube geguckt hast, merkst du: Die sind immer tragisch und scheiße am Ende. Also nicht qualitativ, aber du willst heulen, weil es die Geschichten viel zu wahr sind. Es war mir wichtig, ein bisschen Eskapismus zu bieten und ein bisschen das Ideal zu zeigen.

STROBO: Der Film war ein Erfolg. Deutlich mehr als zwei Millionen Aufrufe und es gab Untertitel in mehreren Sprachen. Wie fühlt sich das für dich an? 

Sven: Ist schon sehr crazy, um es mal auf einer anderen Sprache zu sagen. Ich bin auf jeden Fall super glücklich damit. Der Film ist ein Entwurf, von wie es sein könnte und nicht so wie es ist. Das freut mich sehr, weil Kunst das Leben imitiert – und Leben die Kunst. Wie soll es besser werden, wenn wir es uns nicht vorstellen können?  

STROBO: Du bist im Ruhrgebiet geboren und lebst dort auch. Was bedeutet das für dich? 

Sven: Ich finde es toll hier, eben weil es so viele Möglichkeiten an Kultur gibt, und man zwischen den Städten pendeln kann. Ich finde Pott, mal sehr provokativ gesagt, könnte das neue Berlin sein, wenn er es wollte, aber er will es nicht. Wir haben die Möglichkeiten und auch die reine Fläche. Ich glaube, dass sich das Ruhrgebiet noch mehr definieren könnte.

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