Ob Jura-AG, Kunstausstellung oder Konzert-Livestream: Bei Network44 ist für alles Platz. Das gemeinsame Ziel: Bochum wieder auf die Karte bringen. STROBO-Autor Tobias Pappert war in der Garage zu Besuch und trifft auf junge Menschen, die sich ihre Stadt zu eigen machen wollen.
Luca Goerdel wartet vor dem Vereinsheim mit Kippe im Mund. Kein verstaubtes Vereinsheim wie im Schrebergarten mit Holzvertäfelungen, Fliesentischen und Toiletten, die schon viele 18. Geburtstage überstehen mussten. Nein, Luca steht in einem grauen Bochumer Hinterhof. Als die Fotografen und ich ankommen, legt er die Kippe beiseite, begrüßt uns freundlich und fragt, ob wir Kaffee oder Wasser trinken möchten.
Es dämmert und es ist kalt, aber angenehm genug, dass wir noch einige Minuten draußen quatschen können, während die Fotografen ihr Lichtstativ aufbauen. Wir stehen vor dem, was einmal die alte Tiefgarage seines Vaters war. „Vor allem aber eine riesige Rumpelkammer! Wir haben hier mehrere Wochen klar Schiff gemacht und jetzt ist das unser Office.“
Keine Spur von Naivität
Luca raucht zu Ende, ich trinke das mir angebotene Wasser aus und vergesse das Glas dann draußen, sorry dafür. Durch das hochgefahrene Rolltor, das gleichzeitig Eingangstür zum Office ist, scheint das Vereinslogo, eine Kugel mit fettem Schriftzug: „N44, since 2020“. „N“ steht dabei für Network, „44“ für die Postleitzahl von Bochum. Das „since 2020“ macht klar, diesen Verein gibt es noch nicht lange, doch kindlich naiv geht es hier nicht zu.
Beim Reingehen stolpere ich über ein Stück vom Rolltor, das fest am Boden angebracht ist, damit bei Unwetter kein Regenwasser rein kommt. Auch ein Auto hätte es jetzt schwer, aber dafür wäre hier eh kein Platz mehr. Das Office, grob geschätzt 50 qm2 groß, besteht aus zwei Räumen. In dem einen sitzt eine Gruppe junger Frauen auf verblassten Ledersofas und plant das nächste Event. Sie winken mir freundlich zu, als ich in den Raum gucke, sind dann aber schnell wieder in ein Gespräch vertieft.
Eine selbst eingezogene Wand weiter sitzen zwei Männer Anfang zwanzig auf Stühlen, die entweder vom Sperrmüll oder aus einem Vintage-Laden kommen und machen einen Soundcheck. Der eine ruft und singt laut in das Mikro, wie man das bei einem Soundcheck halt macht, der andere muss deswegen lachen und verschluckt sich fast an seinem mitgebrachten Falafel-Dürum. Die Stimmung ist locker, alle sind gut miteinander befreundet. Bei mir kommt ein Start-Up-Gefühl auf.
Gute Ideen realisieren
Luca und ich setzen uns zu den beiden Tontechnikern an einen großen Tisch, dann kommt noch ein weiterer Luca dazu. Luca Bachmann ist sein bürgerlicher Name, “LDB” sein Künstlername. Er wird mir später die musikalische Seite des Vereins näher bringen. Aber erstmal beginnt der erste Luca, also Luca Goerdel, der Gründer des Vereins: „Ende 2019 hatte ich die Idee für N44. In meinem Freundeskreis waren viele Leute mit guten Ideen, aber so richtig geklappt hat das nicht, wenn wir uns etwas vornahmen.
Also sind wir ernsthafter an die Sache herangegangen und haben einen eingetragenen Verein gegründet.“ Damit sei zum einen der rechtliche Teil abgesichert gewesen, andererseits auch die Gewissheit geschafft, dass das jetzt eine ernste Nummer sei. „Und ich konnte auch ein bisschen was von meinem Jura-Studium in die Praxis umsetzen“, sagt er und lacht. „Unsere Hauptmotivation war und ist aber recht einfach: „Gute Ideen realisieren!“
Von zehn auf hundert
Ein Grundsatz, dem sich viele anschließen konnten. Innerhalb eines Jahres werden aus den zehn Freund:innen hundert Mitglieder. Ein Wachstum, mit dem Luca nie gerechnet hätte. „Wir sind ja auch nicht auf der Straße rumgelaufen und haben Flyer verteilt oder so. Ich glaube, die Leute kommen einfach, weil es was Neues ist.“ Die einzige Verpflichtung ist der Monatsbeitrag von zehn Euro, also 120 Euro im Jahr.
Ist das nicht, gerade für junge Menschen, ganz schön viel Geld? Luca widerspricht: „Wenn ich gucke, wofür ich im Monat mal einen Zehner raushaue, ob das eine Wochenendbeschäftigung ist oder zwei Döner, da bist du auch schnell dein Geld los. Bei N44 hast du nicht nur das Netzwerk, sondern auch die Möglichkeit deine Ideen zu verwirklichen. Außerdem unterstützen wir als Verein soziale Projekte, diesen Monat zum Beispiel die AIDS-Hilfe. Ein Teil des Mitgliedsbeitrags fließt also auch immer in etwas Wohltätiges.“
Doch genug von der Gründung. Was hat N44 bis jetzt überhaupt gemacht? Wie alle anderen auch, habe sie Corona aus der Spur gehauen. „Wir hatten ein Festival geplant. Die Jukebox44, draußen, mit Livemusik, ein richtiges Festival eben. Die Locations standen auch schon“, erzählt LDB, der Leiter der Musik AG ist. Absagen wollten sie es dann aber auch nicht, also wurde umorganisiert auf Livestream. Und auch wenn 2020 gefühlt jedes Konzert ein Livestream war, ist so ein Event keine einfache Sache. Nach viel Vorarbeit spielten Ende Mai 14 Künstler:innen über 8 Stunden lang live auf der Bühne im Büro vor dem selbst gestrichenen Greenscreen.
„Wir wollten so eine Plattform für talentierte Newcomer bieten und nebenbei Spenden sammeln“. 1400 Euro sind dabei zusammengekommen, eine beachtliche Summe. „Das Geld haben wir aufgeteilt. Die eine Hälfte ging an die Musikschule Bochum, die andere an die Rotunde, einem Bochumer Club für den die Zuschauer:innen in einem Voting abgestimmt haben“, so LDB.
Bühne für Newcomer:innen
Neben der Jukebox44 gab es 2020 viel anderes, von FIFA-Turnier bis Freestyle-Tanzkurs. „Wir teilen uns im Verein in verschiedene AGs auf, damit wir möglichst viele Interessensbereiche abdecken können“, erklärt LDB. Die Musik AG kümmerte sich beispielsweise zusammen mit der Event AG um die Jukebox44. Seine AG sei der Sammelpunkt von vielen talentierten kreativen Menschen. „Wenn jetzt jemand zum Beispiel einen professionellen Mix von seinem Song haben möchte, können wir das bieten. Außerdem wollen wir Bühnen für Newcomer:innen schaffen. Mittlerweile haben wir 1500 Follower auf Instagram. Und die folgen uns auch freiwillig und sind interessiert. Also ein echtes Publikum!“
Jura-AG und Politik-Interviews
Neben der Musik AG gibt es unter anderem Gruppen für Social Media, Sport und für Jura. Ja, richtig gelesen, Jura. Was macht man da? „Zur Kommunalwahl 2020 haben wir Videointerviews mit den Oberbürgermeisterkandidaten in Bochum geführt“, erklärt Luca, der der Kopf der AG ist. „Kennst du diese faule Ausrede? Sonntag habe ich keinen Bock aufzustehen, weil ich mir Samstag einen reingesoffen hab! Dagegen wollten wir was machen. Wenn am Ende durch unsere Videos ein paar mehr Menschen zur Wahl gegangen sind, hat sich das schon gelohnt.“
Bochum wird unterschätzt
Lokalpolitik und besonders Lokalpatriotismus sind große Themen im Verein, die 44 steht ja nicht umsonst im Namen. LDB erklärt: „Wir kommen aus Bochum und sind hier zusammen aufgewachsen. Natürlich ist der Lokalpatriotismus da groß. Bochum ist für uns einfach Heimat!” „Außerdem”, schiebt er hinterher, „ist die Bochumer Innenstadt wunderschön”, und muss dann selber anfangen zu lachen.
Wenn Bochum jetzt aber, die Innenstadt mal ausgeschlossen, so großartig sei, warum braucht es dann einen Verein wie Network44? Luca antwortet: „Ich glaube, vielen Leuten fehlt das Bewusstsein darüber, was wir hier schon haben. Gerade Studierende und Auszubildende kommen hierhin, pendeln oder wohnen hier für zwei Jahre und sind dann sofort wieder weg, weil sie nicht mitbekommen haben, was diese Stadt eigentlich zu bieten hat. Da sind wir als Bochumer in der Verantwortung zu zeigen, was es hier schon gibt, aber auch in der Pflicht, immer noch Cooleres zu schaffen.“
Für 2021 planen sie im Verein unter anderem eine Kunstausstellung zu Rassismus, Zusammenhalt und kultureller Vielfalt. „Nach dem Tod von George Floyd wollten wir nicht nur ein schwarzes Foto posten, sondern uns nachhaltig mit dem Thema beschäftigen. Wir haben in unserer Stadt und im Verein viele Facetten und wollen auch immer mitgeben: Zusammenhalt und kulturelle Vielfalt sind viel stärker als Rassismus“, so Luca.
Bock an der Sache
Als ich, wie in einem guten Bewerbungsgespräch, frage, wo sie den Verein in zwei Jahren sehen, stockt Luca etwas. Er denkt kurz nach und sagt dann: „Es passieren so vielen Dinge, die man nicht voraussehen kann, diese Pandemie ist das beste Beispiel. Mein persönlicher Wunsch wäre, dass wir innerhalb von Bochum eine gefestigte Stellung haben. Dass auch ältere Leute, gerne auch aus der Lokalpolitik, auf uns zurückgreifen können und uns fragen, wie wir gewisse Themen sehen oder angehen würden. Und dass sich dieses Netzwerk weiterentwickelt und jeder auch persönlich daran wachsen kann.“
Nach knapp einer Stunde verabschiede ich mich und gehe durch das immer noch offene Rolltor wieder aus der ehemaligen Tiefgarage. Die Eventplanerinnen sitzen noch auf den Sofas, die Tontechniker noch vor den Rechnern, und da werden sie vermutlich auch noch etwas länger bleiben. Bei mir kommt wieder dieses Start-Up-Gefühl auf. Nur: In Startups werden die Menschen bezahlt, um zu arbeiten. Hier arbeiten sie, weil sie Bock an der Sache haben. Von der Garage aus die Welt (oder zumindest die eigene Stadt) zu verändern, hat ja schon bei einigen geklappt. Warum also nicht auch beim Network44.
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