Michael Hess ist Choreograf am inklusiven Theater Kiebitz aus Duisburg-Marxloh. In seiner Gruppe arbeiten Menschen jeglichen Alters zusammen. STROBO hat sich mit ihm im Theater getroffen und über Inklusion und Generationsunterschiede in der Theaterbranche gesprochen.
STROBO: Herr Hess, Sie sind Choreograf am inklusiven Theater Kiebitz in Duisburg-Marxloh. Wie sind Sie dorthin gekommen?
Michael Hess: Die Herausforderung im pädagogischen Bereich hat mich immer schon gekitzelt. Anfangs habe ich mit Kindern gearbeitet und geschaut, wie gut man Kindern das Tanzen vermitteln kann. Da habe ich festgestellt, dass das sehr gut funktioniert. Danach kam für mich die nächste Herausforderung: die Arbeit mit körperlich und geistig beeinträchtigten Menschen. Die Menschen habe eine andere Herangehensweise an viele Dinge und leben sehr im Moment. Das heißt etwas was heute gilt, ist morgen schon nicht mehr so viel Wert, beziehungsweise einfach nicht mehr so interessant.
STROBO: Wie funktioniert die Inklusion bei Ihnen im Theater?
Michael Hess: Inklusion funktioniert bei uns über den bunten und verschiedenen Mix der Menschen. Das ist die heterogenste Gruppe, die ich je mitleiten durfte. Zurzeit ist der Jüngste zwölf und die älteste Dame ist um die 80 Jahre alt. Zum einen ist es eine große Herausforderung alle Bedürfnisse abzudecken, zum anderen ist es interessant zu sehen, wie Menschen mit Beeinträchtigung verschiedene Altersstufen durchlaufen und verschiedene Entwicklungen haben. Inklusiv sind wir, weil wir auch Menschen ohne Beeinträchtigung mit dabei haben, die genauso Feuer und Flamme sind.
STROBO:Inside – Michael Hess
Michael Hess hat zeitgenössischen Tanz an der Folkwang Universität der Künste in Essen studiert. Seit 2012 arbeitet er im inklusiven Theater Kiebitz in Duisburg-Marxloh als Choreograph.
STROBO: Wie sie sagen: Das Projekt richtet sich an Menschen mit Behinderung, aber auch an Personen mit internationaler Geschichte. Wie passt das zusammen?
Michael Hess: Wir sind alle Menschen und das verbindet uns. So sehen wir auch jeden einzelnen Teilnehmenden. Für uns stehen weder die Erkrankung noch der Hintergrund der Menschen im Vordergrund. Gerade am Anfang meiner Arbeit mit behinderten Menschen musste ich lernen, dass wir Menschen ohne Behinderung viel mehr mit Vorurteilen oder Schubladendenken zu kämpfen haben. Für mich war es sehr erleichternd zu sehen, dass diese Kategorisierungen gebrochen werden und der Mensch einfach so genommen wird, wie er kommt und wie er ist. Der Mensch wird einfach angenommen, egal wie es ihm heute geht und wie er oder sie drauf ist. Es ist egal woher man herkommt oder welche Sprache gesprochen wird.
STROBO: Führen die Vielfalt und die Generationenunterschiede zu Barrieren bei der Verständigung?
Michael Hess: Bei uns herrscht eher ein familiäres Verhältnis. Beispielsweise trifft dann die Oma auf den Enkel, die Mama auf das Kind oder der Onkel auf die Tante. Diese Altersgrenzen, die festlegen wie man sich in welchem Alter verhält, gibt es bei uns gar nicht. Diese Grenzen werden einfach gesprengt und spielen keine Rolle.
STROBO: Sie arbeiten seit 2012 am inklusiven Theater. Was war bisher ihr schönstes Erlebnis während des Projekts?
Michael Hess: Es gab mal eine Phase, in der bei mir wirklich viel los war. Während der Probe kam eine Teilnehmerin zu mir, die das bemerkt hat. Als ich ihr meine Situation geschildert habe, sagte sie zu mir: „Jetzt bleib mal ruhig. Hier rein, da raus und in der Mitte ist das Irrenhaus“. Ich musste mich so kaputtlachen und habe in dem Moment gemerkt, wie recht sie damit hat.
Auch hatten wir mal eine Aufführung für Schüler:innen in einem Theater in Duisburg. Danach sind die Schüler:innen, auf die Bühne gestürmt und wollten Autogramme haben. Teilweise haben wir Teilnehmende, die nicht lesen und schreiben können. Für die haben wir dann Symbole festgelegt, die sie auf die Flyer als Autogramm malen können. Das sind einfach Momente, in denen man merkt, dass jede:r in der Gesellschaft etwas zu geben hat, geben kann und geben darf.
STROBO: Das inklusive Projekt am Theater Kiebitz heißt “Blickwechsel“. Was steckt hinter diesem Namen?
Michael Hess: Das inklusive Theater Kiebitz gibt es schon seit 2008. „Blickwechsel“ ist nur ein Teilprojekt von uns. Ungefähr alle drei Jahre bekommen wir eine Förderung von verschiedenen Sponsoren und setzten wir uns einen neuen Schwerpunkt und schauen, wie wir diesen mit unseren Teilnehmenden erarbeiten können.
Bei „Blickwechsel“ geht es darum, sich Dinge aus verschiedenen Perspektiven anzuschauen und so zu verarbeiten. Es ist möglich Dinge theatral zu verarbeiten oder tänzerisch oder mit ganz anderen Bewegungen. Dabei schauen wir, worauf wir den Fokus bei den Proben und den Stücken legen wollen, wo bei verschiedenen Dingen der Fokus liegt und wo verstärkt darauf geachtet wird.
STROBO: Wie inklusiv ist die Theaterbranche in Deutschland bereits?
Michael Hess: Es gibt viele Möglichkeiten im inklusiven Bereich Projekte zu starten, gerade in Deutschland ist das durch Förderungen möglich. Allerdings sind es meiner Meinung nach immer noch zu wenige, was aber auch teilweise dem System geschuldet ist. Auch das Umdenken ist superwichtig. Tanz, Theater und generell Kunst gehören essentiell zum Leben dazu und sollten allen ermöglicht werden, die das möchten und brauchen.
in Deutschland gibt es schon viele spannende und tolle inklusive Projekte. Meist haben diese allerdings auch den Fokus auf Inklusion und sind kategorisiert in Menschen mit Beeinträchtigung und Menschen ohne Beeinträchtigung. Ein noch größerer Mix wäre da meiner Ansicht nach deutlich spannender. Gerade auch auf professionellen Bühnen sollten auch Menschen mit Beeinträchtigung zu sehen sein.
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