Fl(t)i*ttchen_lesen – ein Sonntag im feministischen Lesekreis

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Jeden dritten Sonntag findet im Kunst- und Kulturzentrum Makroscope in Mülheim ein feministischer Lesekreis statt. Seit 2019 veranstaltet die 35-jährige Carolin Gerstberger den Buchclub unter dem Namen Fl(t)i*ttchen_lesen. STROBO-Autorin Joyce hat sich den Lesekreis genauer angesehen.

Es ist ein grauer Sonntag in der Mülheimer Innenstadt. Dein Outfit ganz in blau sieht richtig gut aus“, sagt Carolin zu Kathi als Begrüßung vor den Scheiben des Makroscope-Zentrums. Kathi ist 37 Jahre alt und seit kurzem Teil des Lesekreises Fl(t)i*ttchen_lesen“. Der Name der Veranstaltung ist gewagt und inspiriert durch die Flittchenbar-Reihe von Christiane Rösinger aus Berlin.

Im Makroscope erstreckt sich ein großflächiger Raum mit Retro-Einrichtung, die sich aus einem Klavier, einer Bar, Pflanzen und einigen Sitzmöglichkeiten und Holztischen zusammensetzt. Es herrscht ein gemütliches Wohnzimmer-Café-Flair. In den hinteren Räumen ist das Museum für Fotokopie. Ihr könnt euch später auch noch die Ausstellung anschauen“, bietet Carolin an. Die Treppen hinauf befinden sich ein Proberaum, ein paar Ateliers und eine ehemalige Schreibmaschinenwerkstatt. Letztere ist der Raum für den Lesekreis.

Im Lesekreis geht es nicht ausschließlich um feministische Themen. Foto: Celia Joy Homann.

Ein FLINTA-Safespace beim Fl(t)i*ttchen_lesen

Als erste Maßnahme setzt Carolin Filterkaffee auf. Möchte jemand Kaffee?“, fragt sie in die Runde, die an diesem Tag aus insgesamt drei Frauen besteht. Im Schnitt sind fünf Frauen pro Lesekreis anwesend, insgesamt gibt es ungefähr zwanzig Mitglieder. Ich mag es, dass es klein und überschaubar ist, mache auch bewusst nicht viel Werbung“, erzählt Carolin. Sie wünscht sich aber, dass auch Transpersonen Teil des Lesekreises werden. Zunächst war sie Vereinsmitglied des Makroscope-Zentrums, bis sie sich dazu entschied, einen Lesekreis für FLINTA-Personen ins Leben zu rufen. Ihr Ziel dabei war es dabei auch, neben ihrer Arbeit in der Verwaltung mehr zu lesen. Ähnlich geht es auch Kathi: Bei meiner Arbeit muss ich viel lesen. Aber keine Romane und keine Themen, die ich mir selbst aussuchen kann.“

Carolin möchte seit der Gründung des Lesekreises unbedingt eine geschützte Gesprächskultur für FLINTA-Perspektiven schaffen und sich gemeinsam in den Tiefen des Feminismus weiterbilden. Lange Zeit förderte auch die Rosa Luxemburg-Stiftung den Lesekreis. Die Förderung sei aber mit hohem bürokratischem Aufwand verbunden gewesen.

Eine Woke-Retro-Kultur

Mittlerweile riecht es nach warmem Kuchen und frischem Kaffee. Teilnehmerin Tine, 37 Jahre alt, die seit Jahren Mitglied im Lesekreis ist, hat veganen Schokokuchen gebacken und mitgebracht. In der Mitte des Raumes stehen vier zusammengestellte Tische, die von zwei Bücherschränken in der Wand umgeben sind. Neben der Tür steht eine braune Ledercouch.

Gründerin Carolin ist es wichtig, einen Safespace zu schaffen. Foto: Celia Joy Homann.

Ja, die Einrichtung in der alten Schreibmaschinenwerkstatt ist Retro, während die Themen des Lesekreises modern sind und sich längst nicht mehr nur auf Feminismus beziehen. Sie reichen von Incels über Science-Fiction, zu Feminismus, LGBTQIA+, Rassismus- und Gesellschaftskritik. Im Buchclub lesen die Frauen meist abwechselnd ein Sachbuch und einen Roman. In den fünf Jahren ist eine lange Buchliste entstanden.

Auf dieser Liste stehen Bücher wie Der Report der Magd“ von Margaret Atwood, Hässlichkeit“ von Moshtari Hilal, Adas Raum“ von Sharon Dodua Otoo, Detransition, Baby“ von Torrey Peters, Deutschland schwarz-weiß“ von Noah Sow, Warum Liebe wehtut“ und Gefühle in Zeiten des Kapitalismus“ von Eva Illouz.

Aktuell beim Fl(t)i*ttchen_lesen: Das Archiv der Träume“

Das an diesem Tag diskutierte Buch ist Das Archiv der Träume“ von Carmen Maria Machado. Dieses ist autobiographisch und thematisiert die toxische Beziehung der bisexuellen Protagonistin mit einer Frau, in der sie das Opfer von physischer und psychischer Gewalt ist. In der queeren Community gilt es als idealisiert, dass in lesbischen Beziehungen keine Gewalt stattfindet – aber auch außerhalb der Community“, teilt Tine mit. Das Buch bezieht sich auf die Geschichte von lesbischen Beziehungen auch auf Gesetzesebene. Tine hat das Buch einer Freundin empfohlen, die selbst aus einer toxischen Beziehung kommt, wie sie in der Runde erzählt.

Die Autorin beschreibt das so gut“, findet Carolin. Sie ist sich sicher, das Buch thematisiert die Mechanismen von toxischen Beziehungen grundsätzlich, nicht nur geschlechtsspezifisch, auf lesbische Beziehungen bezogen.

Der Lesekreis findet alle vier Wochen im Macroscope in Mühlheim statt. Foto: Celia Joy Homann.

,,Du denkst von dir, dass du dumm und langweilig bist.“

Carolin gesteht: Man kennt das von sich selbst als Frau, wie sehr man sich in seinem Selbstbild runter macht.“ Die Frauen im Lesekreis diskutieren leidenschaftlich die Geschichte der Protagonistin und fühlen mit ihr. Im Buch ist auch sehr eindrücklich beschrieben, wie viel Gewalt es abseits von physischer Gewalt gibt“, ist sich Kathi sicher.

Die Gruppe rekapituliert an diesem Tag auch über weitere gelesene Bücher. Nach dem Buch über Incels kann einen aber auch nichts mehr herunterziehen“, sagt Tine. Das Buch führt einem vor Augen, dass diese Menschen denken, Frauen sind keine richtigen Menschen.“ Carolin stimmt ihr zu: Das war so schlimm. Es verdeutlicht eine zunehmende Radikalisierung, insbesondere im Internet.“

Ungeachtet der herausfordernden Themen ist die Stimmung ausgelassen und freundschaftlich. Es gibt immer wieder Gelächter. Alle sind sich einig, dass die Lesekreisnachmittage für sie schön und wertvoll sind. Und das trotz der meist schweren und anspruchsvollen Kost. Kathi ist wichtig: Es ist eine Gemeinschaftssache, die davon lebt, dass Leute herkommen und sich wohlfühlen.“

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