Audiowalk: Ein queerer Spaziergang durch Witten

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Solidarität, Privilegien, Metaphern – darum geht es beim queer-feministischen Audiowalk in Witten. All das hat STROBO-Autorin Liliane an einem Freitagnachmittag erlebt. Warum ein queerer Audiowalk überhaupt so wichtig ist und wie sie den Audiowalk findet, lest ihr hier.

Ich mache mich auf den Weg, um Witten aus einer queer-feministischen Perspektive zu erleben. Es ist Freitagnachmittag, der deutsche Winter zeigt sich von seiner besten Seite: Der Himmel ist grau, alles ist nass und trist. Im Rahmen des Imagine Equality-Festivals haben einige queere Wittener*innen einen Audiowalk gestaltet. 

Das Märkische Museum entwickelte in Kooperation mit der WERK°STADT Witten den Audiowalk. Die WERK°STADT ist ein Kultur-, Jugend- und Veranstaltungszentrum. „Wir von Anna Kpok wurden gefragt, ob wir im Rahmen des queer-feministischen Festivals einen Workshop geben wollen“, sagt Emese Bodolay, Mitglied vom Theaterkollektiv Anna Kpok.„Gemeinsam versuchen wir einen Weg in eine offene Welt zu finden“, heißt es im Audiowalk. 

Queere Spots in Witten entdecken

Warum braucht es überhaupt einen queeren Audiowalk? „Wichtig ist es, weil es was ganz anderes offenbart als wenn man als Tourist oder Besucher durchläuft. Das sind ja Perspektiven auf eine Stadt, die normalerweise nicht gezeigt werden, weil sie marginalisiert sind“, sagt Emese Bodolay. Dort wo Queerful Whispers entstand, startet er auch, bei der WERK°STADT Witten. Die WERK°STADT ist gar nicht so leicht zu finden – ich laufe in ein Industriegebiet, vorbei an einem verlassenen Olympiastützpunkt für Ringer.

Irgendwie ist die Szenerie ganz heimelich: Blumenbeete aus Paletten sind in allen Farben des Regenbogens angestrichen, ein schöner Kontrast zum grauen Himmel. In einer Ecke steht ein Strandkorb in einem Sandkasten, daneben ein Basketballkorb – der ist vollgeklebt mit Stickern von Queerful Whispers.

Hier steht auch der Tauschwagen Sam, ein Ort an dem man Gegenstände jeder Art mit anderen tauschen kann.  Der Tauschwagen ist ein freier Ort in Witten, an dem nichts fest geregelt ist. Bei diesem Audiowalk geht es darum „einen queer-feministischen Blick auf Witten zu entwickeln“, sagt Emese Bodolay. 

Marginalisierte Perspektiven wahrnehmen

Eine Herausforderung für mich als Neuling in Witten ist unter anderem die Navigation. Der Audiowalk führt mich Richtung Innenstadt. Zwischen einem Beet und einer Telefonzelle finde ich eine kleine Bank, auf der an das vegane Bistro Curly Cow erinnert wird. “In Erinnerung an Curly Cow”, steht auf der Plakette. “Against any kind of discrimination.”

Das Curly Cow war von 2017-2019 einer der queeren Spots in Witten. Ich kann mir dank des Audios das Treiben dort gut vorstellen, auch wenn jetzt in diesem Gebäude ein lindgrün angestrichenes, indisches Restaurant ist. „Es riecht nach scharfen Gewürzen und Veränderung“, heißt es im Audio. Scharf riecht es hier definitiv. Ohne den Audiowalk wäre ich mit Sicherheit an der Bank, die an das Curly Cow erinnert, vorbeigelaufen.

Jede Erwähnung von dir eine kleine Offenbarung

Danach geht es um Outings. „Ich mag es nicht, wenn Pflaster schnell abgerissen werden. Das war schon immer so“, sagt eine queere Person in einem Audiotext an der Station Curly Cow. „So ähnlich ist es mit meinen Outings. Es gibt aber auch Outings, die gehen von selbst. Das Pflaster löst sich von alleine.“  Die Metapher mit dem Pflaster finde ich gut – das kann jede:r nachvollziehen, auch Personen, die sich noch nie outen mussten.

„Wie spreche ich über dich? Jede Erwähnung von dir eine kleine Offenbarung“, fragt sich dieselbe queere Person. Mir „dir“ ist ihre Sexualität gemeint. Auch das kann ich, obwohl ich damit selbst noch keine Berührungspunkte hatte, sehr gut nachvollziehen.

Es ist, als würde man einen Teil seiner Identität preisgeben, der bis dahin nicht offensichtlich war. In diesem Text werden auch noch Pronomen angesprochen. Bis dahin war ich mir meinem Privileg gar nicht bewusst. Das Privileg, dass ich noch nie nach meinen Pronomen gefragt wurde und mir auch noch nie Gedanken darüber machen musste. 

Ist Solidarität das Gegenteil von Konkurrenz?

Ich gehe über die Straße und laufe erstmal bergab. An einer Ecke steht eine Badewanne voller Erde, in die Blumen eingepflanzt wurden. Ich komme an einem kleinen Platz an. Bei dieser Station geht es um Solidarität. Ich stehe vor einem soziokulturellen Zentrum an einer Straßenlaterne, die mit Strick ummantelt ist. Das „Trotz Allem“ kann man nicht übersehen – ein knallroter Briefkasten hängt an der Haustür. Im Schaufenster hängen Thesen zum § 219a. Das “Trotz Allem” findet Werbung für Schwangerschaftsabbrüche soll legal sein. Hier passiert viel – das kann ich sehen. In dem Audiostück geht es um Solidarität. „Solidarität ist das Gegenteil von Konkurrenz“, heißt es darin. 

Nicht jede Metapher verstehe ich

Bei der Station Obst und Gedrängel laufe ich über den Wittener Rathausplatz. Von Gedrängel kann man heute nicht sprechen. Der Wittener Weihnachtsmarkt nimmt den gesamten Rathausplatz für sich ein, viel ist aber nicht los. Im Text wird der blaue Himmel und die Sonne angesprochen. Die vermisse ich an diesem Tag leider. Die Person spricht über das Flanieren über den Wittener Rathausplatz. Es geht um einen gegrillten Champignon. Übersetzen kann ich die Metapher dieses Mal nicht. 

Wie viele Privilegien habe ich eigentlich als Cis-Frau?

Nach dem mittlerweile (dank vielen missglückten Navigationsversuchen) schon sehr langen Spaziergang wärme ich mich im Raum.Café auf. Das Café ist auch eine Station des Audiowalks. Es bietet allen einen Raum, egal welches Geschlecht und welche Herkunft die Besuchenden haben. In dem Audiotrack heißt es: „Hinterfrage, welchen Raum du einnimmst, welche Privilegien du hast.“

Das macht mich nachdenklich. Ich bestelle aber zur Stärkung erstmal einen veganen Birnen-Streuselkuchen. Wenn ich mal so über meine Privilegien nachdenke: ich habe ganz schön viele. Ich bin eine weiße, heterosexuelle Cis-Frau – ich wurde noch nie diskriminiert und musste mich auch nie „outen“ oder meine Sexualität verstecken.

Queerful Whispers soll weiterwachsen

In Zukunft soll der Audiowalk noch größer werden, erzählt Emese Bodolay: „Die Idee ist, dass die Teilnehmer*innen noch weitere Stimmen sammeln.” Auf der Website von Queerful Whispers kann man sich melden, wenn man eine Station hinzufügen möchte. Das Projekt hat sein Ende also nicht im queerfeministischen Festival gefunden, erzählt Bodolay: “ das Internet vergisst ja nicht, das ist auf lange Zeit angelegt.“

Ich bin gesellschaftlich akzeptiert, anderen geht es nicht so. Platz für Diskriminierung, Sexismus, Homo – oder Transphobie gibt es im Raum.Café nicht. Die Toilette im Raum Café ist genderneutral. „Whichever“ steht auf dem Schild. Das finde ich eine gute Idee. Weniger labeln, mehr sein. Label sind meiner Meinung nach ein menschliches Konstrukt und alles andere als natürlich.

Der Audiowalk endet da, wo er begann. Bei der WERK°STADT. Es war anstrengend – aber lohnenswert. Die Audios haben auch mir Denkanstöße verpasst. Sich seiner Privilegien bewusst zu werden, ist die Pflicht aller Menschen. Nur dann kann man seine Rolle in der Gesellschaft wahrnehmen. Nur wenn man sich dessen bewusst ist, hat man die Chance anderen Menschen zu mehr Privilegien zu verhelfen. Denn mit mehr Solidarität und weniger offen gelebter Konkurrenz kann man mehr Gleichheit schaffen.

Bock auf mehr STROBO? Lest hier: Ohne Worte: Zu Gast beim Deaf Slam

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