Chancenungleichheiten als Motiv: Das „ensemble diskursiv“ im Porträt

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Theater als frei zugänglicher Diskussionsraum, der Begegnungen schafft und gesellschaftspolitische Themen bearbeitet: Das möchte das „ensemble diskursiv“ schaffen – und sucht dafür nach einer neuen künstlerischen Leitung. STROBO hat sich mit Hanna Kuhlmann, der aktuellen künstlerischen Leitung des Theaterkollektivs  getroffen.

Ein Theater „für alle“, das ist die Vision des „ensemble diskursiv“. Von der Themenfindung bis zur szenischen Ausgestaltung ist Teamarbeit angesagt. Das Ensemble hat Diskurs im Namen und lebt eine entsprechende Arbeitsweise vom Anbeginn einer Produktion. Dabei zeichnet sich das Kollektiv im Gegensatz zu den meisten städtischen Betrieben durch seine flachen Hierarchien aus. Die Konstellation des Ensembles variiert je nach Produktion. 

Dissoziation und Klassismus: Das „ensemble diskursiv” bearbeitet sensible Themen

Seit der Gründung 2020 hat das Ensemble gemeinsam zwei Produktionen erarbeitet. „Sehnsucht“, die erste der beiden Arbeiten des Kollektivs, kam coronabedingt als Filmproduktion zur Aufführung. Als Auftakt ging es der Gruppe um Dissoziationen: dem Auseinanderfallen von psychischen Funktionen. In elf Szenen untergliedert, vermittelt eine fiktive Geschichte die Sehnsucht nach sozialer Resonanz. Im Anschluss an den Film gab es eine Gesprächsrunde.

Hier wurden das Krankheitsbild und Erfahrungen aus der Arbeit mit Betroffenen besprochen. Dies geschah in professioneller Zusammenarbeit mit dem Verein Halte-Stelle, einer Dortmunder Tagesstätte für psychisch erkrankte Menschen. Der Film wurde anschließend auf YouTube veröffentlicht. 

Körper, Kapital und Klasse sind Inhalte, die das Ensemble in der darauf folgenden Performance „ver.körper.t“ bearbeitete. Hier setzt sich die Gruppe gemeinsam mit Themen auseinander, auf die sie immer wieder in Alltag und Beruf stoßen. Chancenungleichheiten oder Formen der Diskriminierung, die Menschen aufgrund einer sozialen Herkunft entgegengebracht werden, waren für Hanna Kuhlmann, die als Sozialarbeiterin in Dortmund tätig ist und das Kollektiv leitet, wichtige Motive. Über die sozialen Medien hat die Gruppe zudem einen Aufruf geschaltet, bei dem sich von Klassismus betroffene Menschen melden und sich mit einem Audiobeitrag an dem Projekt beteiligen konnten.

Gegenstand des Bühnentextes sind jedoch ausschließlich fiktive Charaktere, deren Biografien sich aus den Impulsen der Gruppe, Beiträgen der Betroffenen und den wissenschaftlichen Hintergründen zusammensetzen. Die Charaktere auf der Bühne sollen Einblicke in Lebensrealitäten beobachtbar machen, die von sozialer Ungerechtigkeit betroffen sind.

„ensemble diskursiv“: Betreute Gesprächsrunden eröffnen den Diskurs

Neben dem künstlerischen Prozess sind bei Produktionen des Kollektivs auch die Aufführungen als Diskursräume konzipiert: Gesprächsrunden führen als wichtiges Element vor oder nach der Veranstaltung durch einen Theaterabend. Diese bieten die Möglichkeit, die gesellschaftspolitischen Themen zu besprechen, die zuvor künstlerisch bearbeitet wurden. Zum Thema Klassismus hat die Gruppe zum Beispiel den Soziologen Andreas Kemper eingeladen, um nach einem moderierten Gespräch den Raum für Fragen und Diskussionen zu öffnen. Zusätzlich hat eine Betroffene vor Ort ihre Standpunkte geäußert.

Hanna Kuhlmann vom Dortmunder Theaterkollektiv „ensemble diskursiv".
Ihr Kollektiv sucht eine neue künstlerische Leitung: Hanna Kuhlmann hat über das Dortmunder Theaterkollektiv „ensemble diskursiv“ gesprochen. Foto David Peters.

„Es geht nicht nur um den Moment von Performance“, berichtet Hanna Kuhlmann. Für sie steht vielmehr der Prozess im Vordergrund, bei dem gemeinsam ein sensibles gesellschaftliches Thema bearbeitet wird. Schließlich entsteht sowohl kontinuierlich seitens der künstlerischen Produktion als auch später im Moment der Aufführung ein Diskursraum, für den die Gruppe den theatralen Rahmen liefert.

Freie Theaterszene in Dortmund: Erleben oder mitgestalten?

Das unkonventionelle Konzept des Kollektivs ist bezeichnend für die Freiheiten und Möglichkeiten in der freien Theaterszene. Für diese Form der Zusammenarbeit hat sich die Gruppe bewusst entschieden. Vorteile in der freien Theaterszene sieht Hanna in der Möglichkeit, die Hierarchien des städtischen Theaters abzubauen. „Man kann sich das System, in dem Theater entsteht, selber schaffen“, erklärt sie. „Wir wollen gleichberechtigt arbeiten.“ Dabei versteht Hanna ihre Rolle als künstlerische Leitung so, dass sie lediglich einen Rahmen vorgibt, in dem sich die anderen Teilnehmer:innen entwickeln können.

Theaterinteressierten möchte die Gruppe eine Plattform bieten, sich künstlerisch zu entfalten und einen Weg in die Szene zu finden. „Wir möchten auch künstlerischem Nachwuchs die Möglichkeit bieten, ihre Arbeiten zu präsentieren. Das ist ein sehr wichtiger Faktor, da Assistierende diese Chance an städtischen Theatern oft nicht eingeräumt bekommen und somit ihre Karriere schwer vorantreiben können.“

Spannend sind für Hanna sowohl die thematischen als auch teamorientierten Freiheiten, die das Ensemble in seiner Arbeit an den Tag legt. „Da weiß ich vorher auch nicht, was am Ende bei rauskommt“, berichtet Hanna. „Das ist eine Freiheit, die man ertragen muss.“

„ensemble diskursiv“: Theaterkollektiv sucht neue künstlerische Leitung

In Zukunft will das „ensemble diskursiv“ auch andere Formen von künstlerischer Performance ausprobieren. Wichtig sei dabei aber immer, dass die Arbeitsweise inklusiv bleibe. „Es geht darum, dass unsere Form von Theater unabhängig von großen zeitlichen und körperlichen Kapazitäten betrieben werden kann”, erklärt Hanna mit Blick auf die Ausrichtung zukünftiger Projekte.

„Da bin ich lieber vorsichtig und möchte nicht in die doppelmoralische Schiene abdriften. Ich möchte nicht viel von den Schauspielenden fordern müssen, damit am Ende für ein Publikum eine Aufführung stattfinden kann, die Grenzen und Ressourcen der teilnehmenden Personen übergeht.“ Die gemeinsame Arbeit balanciere stets zwischen finanziellen Engpässen und aktivistischen Inspirationen, erzählt sie weiter.

Aktuell sucht die Gruppe eine Vertretung der künstlerischen Leitung, die durch zukünftige Projekte führt. Hanna, die sich eine Zukunft des Ensembles wünscht, muss ihre Arbeit aus persönlichen Gründen in diesem Jahr zeitweise niederlegen. Teil des Ensembles kann jede:r werden, der:die die Idee flacher Hierarchien und einer diskursorientierten Arbeitsweise, ein Thema theatral zu bearbeiten, teilt. Zum Instagramkanal, der außerdem über neue Projekte der Gruppe informiert, geht es hier.

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